Vai vai! Pünktlich um sieben Uhr morgens erhebt sich der Lärm vor meinem Fenster: Sirren, Pfeifen, Rumpeln, Klopfen, Schlagen, Rufen, Fluchen. Jede Woche wächst ein Stockwerk im Rohbau neben mir in die Höhe: dezesseis, dezassete, dezoito, dezanove, 16, 17, 18, 19. Dagegen das zarte Flirren des Bambus und das kräftige Leuchten einer roten Blüte im Morgenlicht in meinem schmalen Hof hier unten, versteckt in einer der wenigen verbliebenen Flachbauten in Cambui, Campinas, São Paulo.
Dort habe ich meine Residenz, meine Ausstellung, work in progress in der Galerie ATAL. Im Hof mache ich allmorgendliche Körperübungen: dehnen, strecken, beugen, schwingen. Dann Teeritual. Ananas, Mandeln, Müsli zum Frühstück, café de manhã. Genuss, Gesicht in der Sonne. Ein lichter Raum, eingepfercht zwischen Betonriesen und Lärm; doch von hier lasse ich good vibes in den neuen Tag aufsteigen wie kleine Wölkchen. Zu den Bauarbeitern da oben im gleißenden Licht, die nicht ausschlafen können wie ich. Vai vai! Und dazwischen der Vogel, der den Soundscape Brasiliens grundiert: Bem-Te-Vi*, ich seh' dich, ich seh' dich, und ich rufe: ich hör' dich, ich hör' dich!
Ein neuer Tag nach einer Nacht, verriegelt in der Galerie, alleine in der ganzen Straße; oft jaulen nachts Autos durchs Viertel, fahren Rennen mit röhrendem Auspuff. Drachen im Jahr des Drachen, der auch ein guter und weiser ist, hoffe ich, ein Fabel- und Kraftwesen, als chinesisches Sternzeichen herrschend im Jahr 2024.
Neue Ideen, nächtliche Ideen, fermentiert, verstrudelt mit Träumen tropfen auf Papier. Tinte, Farbe, Worte.
Ich liebe die Muße am Morgen. Das erste Gedicht entsteht. Zum Schluss wird es eine meiner Wolken, nuvems, die als Geschenke in Campinas bleiben, bei Freunden, Begegnungen, meinen Gastgebern. Sie gehen ein in den Kreislauf des Wetters, hier über der Stadt und auf dem Land, wohin ich später reisen werde, nach Minas Gerais und Rio de Janeiro an der Küste, jeweils eine Nachtreise entfernt von hier.
Wetterwolken sind gerade rar; stattdessen zieht der Smog der Brände in São Paulo und vom Amazonas nachmittags auf und faucht zwischen den Wolkenkratzern im blankgekratzten Himmel. Der Drache spuckt Feuer, rächt die menschengemachte Apokalypse: illegale Rodungen, Klimawandel, vai vai, sem parar!
Am Morgen trifft das Licht auf die Feder am Pfeil in meiner Ausstellung Flecha e Pao, wirft den Schatten der Schrift auf den Steinboden. Ich gehe los, reise in den Tag, uma nuvem de luz... revela uma vista - um continente.
* https://www.youtube.com/watch?v=UMAnr-1m-tY
uma nuvem for Gallery ATAL
Morgenstund - manhã
5. - 31. August 2024
In the morning
I bathe my feet in moongravel
and dive through bold trees' yellow blossom
Right in front of my cage
guarded by bees' baskets made of glass
dances a colibri
I am singing with the powerful voice of the jaguar
in the fragile body of a little bird
8. August 2024
(c) Eva Wal, VG Bild