Freitag, 15. November 2024

Jequetibá


Nach drei Wochen in der brasilianischen Großstadt Campinas* wuchs die Sehnsucht nach Natur zu einem dringlichen Bedüfnis heran.

Auch, wenn der Ausblick aus einem Hochhaus etwas Erhabenes hat; hier im Atelier mit meiner neuen Künstlerfreundin, der wunderbaren Valéria Scornaienchi vor dem Panorama mit Sonnenuntergang auf der einen- und dem Vollmond auf der anderen Seite (hier die untergehende Sonne):










*Aufenthalt in Campinas, São Paulo, Künstlerresidenz Galerie ATAL und Ausstellung siehe vorige Postings seit August


Und so war ein Tag im Park, dem Bosque dos Jequetibás, ein wunderschönes und erholsames Erlebnis mit meinem geschätzten Künstlerfreund Samuel Menezes, der eine besondere Beziehung zu diesem Baum hat; kennt er ihn doch schon seit 30 Jahren. Damals war er ein Kind und die heute mächtigen Brettwurzeln glichen eher noch Rasenkanten. 


Besuch

Ein Baum ist ein Individuum, zugehörig einer Art, der wir Menschen einen Namen geben. Hier gibt es hohe, große, mächtige Bäume. Copaiba, Jatobá, Jequetibá. Die Namen klingen exotisch, der Baum kann nichts dafür.

Harz, Rinde, Früchte und Blätter bieten Essenzen und Extrakte: heilsam, antiseptisch, beruhigend, vitaminreich, aber auch psychoaktiv und tödlich. 

Einem Baum zu begegnen, sich mit ihm zu verbinden, ist für mich ein erhabenes Erlebnis, das in mir Respekt und Demut hervorruft. Ebenso spüre ich die Ruhe, die ein Baum ausstrahlt, das Leben in, an und um ihn. Geheimnis und Klarheit. Er ist geschlossen und offen. Bewegt und statisch. Alt und neu. Will ich ihn betreten, frage ich, bitte um Einlass und warte auf Antwort. Eine Verbindung aufzunehmen über den Stamm, die physische Berührung, ist ein Gespräch, eine Gegenseitigkeit, ein Austausch. Ich bin das Tier, das den Baum besucht, ihn befragt, ihn berührt, ihn nutzt und ihm Dankbarkeit entgegenbringt - bevor es wieder geht und weiterzieht. 

Der Baum ist, ich bin. Baumsein. Einsam gemeinsam.












Fotoreihe Jequetibá und Eva: Samuel Menezes


Jequetibá

Der Gott vom Vulkan der die goldene
schwefelgefärbte Erde trinkt und kleine
Vögel verschlingt aus Leidenschaft
mit Öl-Zimt-Curcuma und gestirntem Anis

Gepflasterte Wurzeln
Schwalben fliegen am Boden

Ein Land ohne Wolken Ein sich verwandelnder Vogel der auch Wölfin ist
und Walfrau und Mond

tanzt im Baum der Sinnlichkeit
                        vergisst und erinnert
                                        im Licht des Himmels

Die Wolke ist eine Essenz

Morgen fallen die Hochhäuser,
die keine Wolkenkratzer sind,

denn es gibt keine Wolken hier außer dieser einen,
                                                                in der ich reise…

…und ich muss aufs Land, in die Stadt aufs Land zu den Vulkanen und
Schwefelquellen und den Brunnen

Den stillen, heimlichen Nächten mit Raubtierschreien

Die Schlangen, den Zimtgöttern sei Dank, hören nimmer auf zu träumen -

- Das Blau der Tiefe
            
                    im Baum Jequetibá














Alle anderen Fotos (c) Eva Wal, VG Bild



Samuel gibt seiner Verbundenheit einen instensiven körperlichen wie künstlerischen Ausdruck: 

https://youtube.com/watch?v=taVVJHzeIpo&si=MHy62DpgEeDTtVmM


Dankbar für Begegnungen, Erlebnisse und neue Künstlerreundschaften war ich bereit für den Abschied und die Reise ins Landesinnere nach Minas Gerais.



Montag, 11. November 2024

Campinas-Schreibzeiten


Fast jeden Tag während meines Galerie-Aufenthalts in Campinas, São Paulo, Brasilien im August 2024 ging ich aus zum Mittagessen, almoçar, und danach ins Café zum Schreiben. So entstanden neben einem "automatischen Roman" (jeden Tag weiterschreiben ohne ein- und anzuhalten - aus einer Ausgangsszene entsteht so eine Handlung, die ihrer eigenen Logik folgt) tagebuchartige Miniaturen aus Betrachtungen bei den Spaziergängen durch den Stadtteil Cambui, in dem ich gerade zuhause war.



Die Blüten versammeln sich zu Köpfen, der Wind schüttelt sie nur leicht. Wasser rinnt auch bei großer Hitze die Straßen hinab. Ich denke die Stadt als Wald, sehe den Wald. La cidade - uma mata, the city as a forest. Doch die Bäche, die auch Lianen und Schlangen sind, tragen Beton, sind vermischt mit dem Pulver, das die Lebkuchenerde, die Paprika-, die rote Lehm- und Eisenerde, aus der die Dschungel wachsen, tötet. Es ist Versiegelungsstaub. Irgendwann bleiben die Rinnsale liegen, bewegen sich nicht mehr. Alles geht fort, wenn es kann, um anderswo zu leben. Betonschlamm bildet den Grund für aufgemotzte Drachen, die mit Lärm die Stille des sabadó zerfetzen, jäh, bei Tag und mitten in der Nacht. Das Wasser fällt aus den Rohren der übereinander gestapelten Stockwerke. Bis Menschen dort ins Innere einziehen, sind die Rohbauten mit Netzen überspannt und mit Rohren von oben nach unten versorgt. Bauarbeiter kleben oder laufen an ihnen hoch und runter wie Ameisen. Sie rufen, fluchen, und heute Morgen hörte ich einen singen. Man könnte sagen, dass die Blüten trotzig sind, wie sie die Köpfe kaum vernehmbar schütteln und so sanft und kräftig leuchten. Sie holen ihr Wasser aus der Lebkuchenerde unter dem Pflastersteindurcheinander. Aus den Bäumen tönt es Bem-Ti-Vi, Bem-Ti-Vi, ich sehe dich, ich sehe dich, und ich rufe zurück: ich höre dich, ich höre dich! So fließt das Leben hier geschmeidig um die hohen Betonstapelwohnungen, in denen man sich, so hörte ich, wohlfühlen kann. Es geht ein Wind, ein frischer Atem vom nicht allzu fernen Meer, und aus den aufgemotzten BMWs kommt verpester Atem, vermischt sich mit dem frischen, doch das ist eben das Leben: es geht weiter, trudelt, strudelt, strömt, schleicht, schreitet, fliegt und flieht - ich habe ja eben nur meine Vorlieben, und man könnte sagen Rück-lieben: das ist die Sehnsucht nach einem Wald, der mich ganz und gar umschließt mit seinem Atem aus Lebkuchen und Holz.

Doch nun bin ich aufgestanden; ich war übrigens gestern Abend verliebt, malte meine Lippen rot an, die Haut orange, schmückte mich mit Federn und stellte mir ein neues Leben in den Bergen vor, dort, wo Schwefelquellen das Wasser gelb färben. Dann trank ich Rotwein und tanzte, nachdem der Abend als  Person, pessoa, zu einer Figur aus Lebkuchen, Nelken, Zimt und Kurkuma geworden war, gebacken im Feuer der Vulkanberge nicht weit von hier.

Ich schlief und wachte auf, als die Bauarbeiter schon fast ihren Feierabend am sabadó hatten, und nach meiner Morgenroutine und den überschaubaren Erledigungen ging ich, wie ich es nun glücklicherweise gewöhnt bin, ins Café zum Schreiben. Es ist Winter und die Luft hat 33 Grad!

Auf der Straße zum Café entdeckte ich einen Teeladen und ging hinein. Wurde durch den Laden geführt, der sich über mehrere schmale Hinterräume erstreckte. Dort entdeckte ich Gewürze, rein in Farbe und Geruch, wie einen Schatz: Kurkuma, Canela, Anis, Lavendel, Hibiskus, alles, was mein duft- und dampfwünschendes Herz begehrt. Ich erstand eine Tasse aus Glas und das dazugehörige Teesieb aus mit Blumen verziertem Porzellan, rot und rosa auf weiß. Eine Kostbarkeit, eine Köstlichkeit, da ich meine Teesorten aus China und Indien hierher mitgebracht habe. Diese Tasse ist delikat, da man sie nicht auf Fliesen oder Kacheln stellen darf, dann gehe das Glas kaputt. Wahrscheinlich sind die meisten Küchenflächen mit Fliesen oder Kacheln ausgestattet, die das lange Überleben dieser Tasse eher unwahrscheinlich machen. Dennoch zog ich dieses Modell dem günstigeren Teestrumpf in einer schön geschwungenen Halterung vor. Ich ließ meine Ware als Geschenk einpacken. Das Finden und Binden einer Schleife um den Henkel der Papiertüte dauerte eine ganze Weile. Die Frau des Teeverkäufers, ihm sehr ähnlich in der Art, das Lächeln im Gesicht zu tragen, mit den Augen sanft zu blitzen (hüten sie doch hier einen Schatz) und sich behände, aber verlangsamt in ihren kleinen, wie auf das Geschäft maßgeschneiderten Körpern zu bewegen. Verlangsamt, denke ich, durch das Wissen, dass die Räume, die all diese zerbrechlichen Kostbarkeiten beherbergen, sehr schmal sind. Es musste auch etwas gefunden werden, das die blassgelbe Stoffschleife mit elegant eingeschnittenen Zacken in ihren Enden am Henkel der Papiertüte befestigen konnte. Offensichtlich war keine Schnur zu finden, was zu gedeckter Aufregung und Konversation zwischen der Frau des Teehändlers und dem Teehändler führte. Es dauerte an, denn außerdem musste zuvor das zerbrechliche Gut, von dem das Preisetikett schon entfernt war, in Folie eingewickelt und sorgfältig verklebt werden. Dann erhielt ich das Geschenk in Vollendung mit dem Hinweis, dass der Teeladen auch einen Lieferdienst anbiete und man ebenfalls einen Termin im Laden buchen könne. Ich bedanke mich freundlich und beteuerte, dass mir das lange Warten nichts ausgemacht habe, tenho tempo, ich habe Zeit.
Dann begab ich mich in mein Café zum Schreiben und stellte die Tüte vor mir auf den Tisch. Sanft glitt die hellgelbe Schleife aus ihrer Fesselung und verschwand in der Tüte. Über mir leuchten gelbrote Blüten, während ich meinen Kaffee nehme und an schwefelgelbes Wasser denke, das mich erfrischt.


































Ich war übrigens gestern abend verliebt...















Café und Restaurant Leve,
mein Lieblingsplatz zum Mittagessen und Schreiben

Hier entstand über 13 Tage der automatische Roman "An einem Morgen im August"
































Lebkuchenerde im Mata Santa Genebra, Campinas





Ein Morgen im Wald, einem Stück Natur in der Stadt:
Mata Santa Genebra
























Fundstücke im Atelier




Schreibzeit in der Galerie







Meditatives Schreiben mit Gästen









preto amarello

running slowly through a jungle of
words that sound like bells made
of rushing water

tangled reality of dreams

you wear me I wear you

the snakes daydream with eyes of

preto amarello 


Meditative Writing with Eva Wal 22. August 2024 Exhibition Vata Katha - Flecha e Pão Eva Wal, Alemanha Gallery ATAL, Campinas, Brazil



Fotos (c) Eva Wal, VG Bild