Textfahne 1 zur Ausstellung DER WALD UND DER STURM, Posting Januar 2023
The Broken and Unbroken Forest
Der Wald ist das Zuhause meiner Kindheit.
Dort erschuf ich Traumwelten, die in völligem Einklang mit mir standen. Ich lebte in dieser verschmolzenen Welt aus kindlicher Phantasie und Wirklichkeit. Baute Hütten und galoppierte mit meinem „Indianerpferd“, das mich immer begleitete. Ich war eine Squaw mit dicken, schwarzen Zöpfen und Freundin von Winnetou, jenem edlen “Indianer” aus den Kultfilmen im Fernsehen.
In Kanada, im Sommer 2022 auf der Broken Forest Tour durch Ontario, lernte ich Indianer kennen, die keine Indianer sind, denn sie kommen schon einmal nicht aus Indien. Sie sind die First Nation (Nord) Amerikas, indigenous oder native Canadians, und sie waren unsere Lehrerinnen und Freunde auf der Tour durch ihr Land, das wir als Gäste betraten. Der Wald, die Weite schienen mir ein heiliges Land, ein Paradies. Intakt und wild. Ich war beschützt in der Gruppe und verband mich mit den Orten, vor allem durchs Barfußlaufen und durch die kurzen, morgendlichen Zeiten an einem See zum Schwimmen und Meditieren.
Ich erinnere mich: nach meiner ersten Reise nach dem Abitur, ein halbes Jahr lang durch Südeuropa, den nahen Osten und Nordafrika, das erste Mal in der Wüste, draußen schlafen und barfuß laufen als Tramperin und traveller, kehrte ich zurück nach Deutschland und sah den Wald. Er schien mir wie eine Erscheinung, eine Fata Morgana innerer Sehnsucht, aus der Märchenstoffe stiegen wie Dunst und Frühnebel.
Ich lebte in Freiburg, ganz in der Nähe zum Schwarzwald. Dort verbrachten wir Wochenenden in Tipis mit Trommeln und Feuern zu Vollmond. Das war magisch. Wüste und Wald verschmolzen in mir und bildeten Pole einer neuen Welt, die immer einen Funken Sehnsucht beinhalten sollte.
Heute sind Realität und Vorstellung von heilem und gebrochenem, zerstörtem, ge- oder verstörtem Wald für mich untrennbar miteinander verbunden. Dystopia meets Utopia.
Der Wald als Gemeinschaft, Gesamtheit oder Gesellschaft, als System aufeinander bezogenen Lebens in einem bestimmten Raum, geprägt von Einflüssen, Klima, Umwelt, steht für alles, was auch uns Menschen ausmacht.
Ich meine, dass der Wald nicht stirbt. Ich meine, dass er uns Menschen überleben wird.
Ich hoffe, wir lernen vom Wald und lernen, ihm nicht zu schaden, sondern mit ihm zu leben zu gegenseitigem Nutzen.
Zum Glück besuche ich den Wald oft und finde dort Regeneration und Existenz. Wurzeln und Kronen. Lebendes und Totes.
Zum Glück kann ich mich verbinden. Mit dem Wald. Mit mir, mit dem Kreislauf des Lebens. Ich bin dankbar dafür.
Zum Glück habe ich eine poetische Sprachader, besuchen mich Visionen.
Der Wald hinter meinen Augen ist der unheimliche, der heimliche Wald.
Bärfüßig - Dancing Barefoot
Haut auf Erde, Wurzel, Sand. Haut auf Stein, Moos, Tannennadel. Haut auf Laub, Staub, Straße. Wenn ich barfuß gehe, verbinde ich mich unmittelbar mit dem Boden. Meine Haut, dieses elastische, dünn gespannte Tuch, in das ich eingewachsen bin, ledrig verhärtet wie Rinde, dort, wo es den Grund berührt, um einen Menschen zu tragen - mich - ist eine Membran. Lässt den Untergrund ein, lässt ihn schwingen. Nimmt Kontakt auf zu allem, was da unten ist und da oben. Bald höre ich auf, über Sicherheit nachzudenken. Spüre. Ich werde ein Wesen und tanze.
Auf der Broken Forest Tour lief ich barfuß, so oft es ging. Da wir viel in der Natur waren, lief ich viel barfuß, manchmal mehrere Stunden am Tag. Bald merkte ich, wie glücklich mich das machte. Meine Füße selbst schienen glücklich, als wären sie zwei sprechende Personen, die, selbständig geworden, endlich agieren dürfen, wie sie wollen. Berühren dürfen, Kontakt schließen, sich kitzeln oder streicheln lassen, Kälte, Hitze, Nässe und Trockenheit spüren- und messen dürfen. Meine kleinen Füße fanden ihren Rhythmus sicher und passten ihn der Beschaffenheit des Untergrunds an. Lebendig und erschöpft, manchmal mit einer kleinen Verletzung, forderten sie eine Massage, Ruhe oder ein Pflaster, aber niemals waren sie böse oder beleidigt. Es ging ihnen wunderbar, und so war ich von meinen Füßen her glücklich. Das Wohlbefinden und die Lebendigkeit stiegen in mir auf und ließen mich tanzen. Mit jedem Schritt wurde ich sicherer und ruhiger in diesem Tanz.
Beim Barfußlaufen gab es keine Eile. Jeden hastigen Gedanken holten die nackten Füße zurück. Meine Aufmerksamkeit war gestärkt. Ich spürte Dankbarkeit, mich nicht verletzt zu haben auf einem Weg. Nicht den guten Wanderschuhen hatte ich zu danken nach dem Trail durch den Old Forest auf Temegami Island, sondern dem Weg selbst und meinen Füßen. Dieses Erlebnis konnte für mich durch nichts mehr ersetzt werden. Hatten meine Füße genug oder war der Weg zu steinig, trug ich meine Barfußschuhe, die am Fuß anliegen und eine genoppte, weiche Sohle haben.
Ebenso merkte ich, dass die Orte oder die Wege, die ich barfuß durchschritten hatte, mir in besonderer Erinnerung blieben. Sie sind bis heute präsenter, ich fühle mich ihnen intim, lebhaft und sensibel verbunden. Ich erinnere das Gefühl, das von meinen Füßen aufstieg, ganz unmittelbar. Dieses Gefühl kann ich durch die Erinnerung wieder hervorrufen, eine kleine Glücksdroge ohne Risiken und Nebenwirkungen.
Die barfuß begangenen Wege wurden mein Zuhause, der Zustand des Reisens meine Heimat. Ebenso werden die Wege und Wiesen vor meiner Tür im Bergischen Land erst ganz ein Zuhause, wenn ich sie barfuß durchwandere. Dies tue ich mittlerweile fast ganzjährig, wenn auch in den kalten Jahreszeiten nur für kurze Zeitspannen.
Als ich nach der Broken Forest Tour meine Verwandtschaft in New Brunswick besuchte, durfte ich mit den Kindern meiner Cousine in den Wald gehen. Sofort zog ich meine Schuhe aus, was die Kinder sehr verwunderte. Dann fragten sie mich: Can you teach us to walk barefoot in the forest? So tat ich es, ließ sie vorsichtig und langsam, aber ohne Furcht die nackten Füße aufsetzen und im Zweifelsfall hinter mir hergehen, so dass sie in meine Fußstapfen treten konnten. So wie es die Bären machen, wenn sie über die Geröllfelder der Gletscher wandern. Über Generationen treten sie in die Fußstapfen der Vorgänger. Ich aber bin meine eigene Pionierin und folge meinen Füßen.
An einem Ort im Wald, zu dem ich täglich ging, um dort immer einen ganz bestimmten Baum zu besuchen, fand ich meine Fußabdrücke im Moos. Wäre ich jetzt, im Winter da, wären es Abdrücke im Schnee. Zu den Spuren von Bären, Füchsen und Vögeln würde sich der Abdruck zweier nackter menschlicher Füße gesellen, als gehörte der Mensch doch noch zu den wahren Waldbewohnern.
Eva Wal, Januar 2023
Travel Drawings
sind übersetzte Bewegungen, Schwingungen, Rhythmen.
Sie können auch abstrahiert für Dynamiken stehen: Seismographen, die Klimawandel, Stürme, das eigene Befinden und Verhalten darin aufzeichnen.
Travel Drawings protokollieren die Notwendigkeit, sich zu bewegen, Transport zu nutzen, um Distanzen zu überwinden.
Der Ökologische Fußabdruck als Linie.
Travel Drawings: Meditative Fahrtenschreiber
Broken Forest Tour, Ontario, Canada, Sommer 2022
Manchmal entstehen Ideen aus den eigenartigsten Situationen. Schon, als uns der Bus in Mississauga, Toronto, abholte, war ich müde und fühlte mich erschöpft. Aufgeregt, schlaflos und überfordert von so vielen Menschen, die auf einmal ständig um mich herum waren, nach all der Zeit, die mich die Pandemie kauzig und einsam, aber auch genauso sehnsüchtig nach einer Gruppenerfahrung gemacht hatte. Es war meine erste Gruppenreise überhaupt. Die Gruppe: rund dreißig internationale Künstlerinnen und Künstler; ich wollte es so!
Hatte Zeichenblöcke und Stifte mitgebracht, um Erlebnisse unmittelbar zu Papier zu bringen, zu zeichnen, zu skizzieren. Saß ganz vorne im Bus, einem schwarz glänzenden Getüm kanadischen Ausmaßes, mit Anne, einer kleinen, schwarzhaarigen Fahrerin. Saß vorne, weil ich alles sehen wollte durch die Frontscheibe, die den optimalen Ausschnitt bot.
Kanada heißt Weite. Bäume rechts, Bäume links, durchzogen von Wasser und Straßen. Darüber Himmel, öde, aufregend, je nachdem.
Wir rollten los, die Reise begann.
Müde und unruhig zog ich meinen kleinen Zeichenblock hervor und nahm den Stift in die Hand. Setzte die feine Spitze leicht auf das
Papier. Der Stift begann sich zu bewegen. Ich folgte, ließ ihn seine eigene Reise antreten. Meine Hand folgte dem Stift, nicht andersherum. Das faszinierte mich. Die kleine Zeichnung, die entstand, war Gekritzel. Das mochte ich schon immer. Direkte, unprätentiöse Zeichnungen, Gekritzel. Telefonzeichnungen, Gesprächskrikelkrakel. Und so adelte ich meine erste kleine Reisezeichnung und wiederholte den Prozess. Nahm Uhrzeit und Koordinaten, Orts- und Straßennamen ins Protokoll auf.
Mein Stift wurde zum Fahrtenschreiber, zum Seismographen. Dennoch funktionierte er nicht nur mechanisch. Schon meine Atembewe-
gungen beeinflussten den Stift. Ich war in einem Zustand meditativer Aufmerksamkeit und Konzentration, auf den meine Müdigkeit
sogar unterstützend zu wirken schien.
Ich verglich die Zeichnungen, jede ähnlich und einzigartig. Ich lud meine Nebensitzer und Gesprächspartner Alex und Jaczeck ein, mit mir gemeinsam ein Travel Drawing zu machen, in der identischen Zeitspanne von etwa zwei bis maximal zehn Minuten. Die Zeichnungen
stellten sich als sehr unterschiedlich heraus. Also war die Zeichnung eine unverwechselbare Handschrift. Das Halten des Stifts ein
individuell gesteuerter Prozess, auch wenn die Tätigkeit äußerst reduziert war. Die Reduktion der Handlung schien das Individuelle noch zu verstärken. Das Spüren, der Kontakt mit dem Blatt entsprachen schon fast dem Barfußlaufen. Der Unterschied ist natürlich, dass die Travel Drawings das Reisen mit einem Gefährt abbilden und ganz wesentlich das Passiv-Aktive dieses Gefahrenwerdens darstellen.
Die Seele, so hörte ich einmal, reise mit dreißig Stundenkilometern. Mit dem Kopf dort sein, wo die Füße sind, ist eine Weisheit von
Handwerksgesellen auf der Walz oder auch von Pilgern. Die eigene Geschwindigkeit, was ist das überhaupt? Eine Seelen-
reise, was bedeutet das?
Auch im Alltag haben wir oft eine andere Geschwindigkeit und einen anderen Rhythmus, als uns vorgegeben wird. Den Rhythmus zu
finden, die Musik in den Dingen zu spüren, uns den Einflüssen und Strömungen von außen anzuvertrauen, hinzugeben und daraus ein
gemeinsames Schwingen von Innen und Außen entstehen zu lassen, ist ein grundmenschliches Bestreben zur Harmonie. Ein
Streben von Leben überhaupt.
Ich beschloss, die gesamte Tour auf diese Weise zu protokollieren. Schon am zweiten Tag lud mich Lisa, die unsere Tour mit Kamera- und Ton-Equipment begleitete, ein, in ihrem Auto mitzufahren. Ich war dankbar und hatte nun den Job der Beifahrerin, die telefonieren und manchmal navigieren durfte. Es war ein Privileg, welches mir das manchmal zähe Warten, bis die Gruppe vollständig war und der Bus
losfahren konnte, ersparte. Lisa und ich wurden travel buddies bis zu unserer Rückkehr nach Toronto.
Neben Bus und Auto waren besondere Freuden der Reise die Fahrt mit der beeindruckenden Fähre Chi-Cheemaun auf Lake Huron zu
Manitoulin Island, die eine Halbinsel ist. Und die Fahrten mit dem Kanu oder Kajak, wo mich Pearl paddelte, damit ich zeichnen konnte. Pearl wurde auch zum Gast in Lisas komfortablen Auto. Auf der Rückreise lud ich sie ein, mit mir gleichzeitig Travel Drawings zu
zeichnen.
Die Travel Drawings der Broken Forest Tour bilden diese spezielle Reise als individuelle Sammlung von Fragmenten ab. Rhythmische, schwingende Einheiten, die sich durch zitternde Strichzeichnungen offenbaren. Dabei finden sich auch die Unregelmäßigkeiten, das
manchmal Unberechenbare einer Reise gespiegelt: hier wechselt der Stift, dort das Papier und das Format. Die Zeichnungen sind für
mich eine autonome Nach-Erfahrung der Reise.
Insgesamt entstanden 39 Zeichnungen in 13 Tagen in Bus, Auto, Fähre, Kanu und Kajak von Toronto nach Kirkland Lake, Northern
Ontario, etwa 1000 Meilen. Als Extra gibt es noch meine eigene Tagestour zu den Niagarafällen und ein Travel Drawing im Flugzeug über dem Atlantik.
Für die Beschriftung habe ich ein Verfahren gewählt, das dem Charakter der Travel Drawings entspricht: meine Handschrift ist mittels Kohlepapier auf den Untergrund übertragen, auf den die Originale aufgezogen sind. Ein Abdruck. Außerdem ist das Geschriebene eine Grafik, was vom griechischen graphein, kratzen, kommt: zum Beispiel in eine Schiefertafel oder, wie hier, in die Oberfläche eines kohlebeschichteten Blatts. Das Geschriebene bleibt bei dieser Technik unsichtbar, bis das Blatt aufgehoben wird. Ein bisschen Zufallsmusik klingt zusammen mit den Travel Drawings.
Broken Forests Group • Nipissing Region Curatorial Collective • Kirkland Contemporary Art
Endangered Boreal, an International Artists’ Symposium and Tour
Summer, 2022 “Recover and Coexist with Nature”
Eva Wal, Januar 2023
Wir lagerten dicht gedrängt. Tausende Menschen waren zum Strahlenberg geströmt, um die derzeit angesagtesten Bands im Land zu hören. Wir kamen wegen Cinnamon. Es war der erster Auftritt dieser noch jungen Band beim jährlichen Rock- und Pop-Festival am Strahlenschloss, dem größten und wichtigsten Musikevent des Landes, weit bekannt auch über alle Grenzen hinaus.
Junge Menschen campten schon Tage vorher auf den Wiesen um das Schloss herum und innerhalb der Anlage. Für alle, die keine Karten für die Schlossanlage mehr bekommen konnten, würde das Konzert auf riesige Leinwände projiziert, so dass man es von den Wiesen aus sehen und über gigantische Lautsprecher hören konnte.
Wir hatten gerade noch Glück gehabt und Karten fürs Schloss bekommen. Schon vor einigen Tagen hatten wir die Zugbrücke passiert und uns einen Platz gesucht, wo wir gechillt abhängen konnten. Wir hatten vorgesorgt, Decken mitgeschleppt, Schlafsack und Isomatte, genügend Proviant, Regenschutz.
Es waren die schönsten Tage unserer Freundschaft. Lea, Janine und ich. Wir lachten und gackerten, lagen aneinander, Rücken an Rücken, Rücken an Bauch und im Kreis mit dem Kopf im Schoß oder auf den Schenkeln der Freundin. Wir flochten uns Zöpfe ins Haar, tranken Dosenbier und hatten auch ein bisschen was zu Rauchen dabei. Den ganzen Tag lagen wir herum, hingen unseren Gedanken und Phantasien nach. Schauten in die Wolken, ließen die Sonne auf uns herunterbrennen, nickten ein und tagträumten davon wie Segelschiffe auf glatter See. Wir plapperten und pafften Marihuanawölkchen in die Luft, den veilchenblauen Himmel über uns.
Astor, der Leadsänger von Cinnemon hatte lange blonde Rastalocken, die ihn umgaben wie ein Kranz goldener Strahlen. Sein Körper war weiß und dünn, dennoch athletisch. Doch wir waren uns einig, dass es seine Augen waren, die ihn zu unserem ultimativen Prinzen machten. Sie waren dunkelbraun, doch wenn er sang, wir schworen es alle drei, leuchteten und funkelten sie in violett und grün. Sollte er eine von uns erwählen, und das schlossen wir nicht aus, würden wir dennoch Freundinnen bleiben und es der Auserwählten gönnen, das schworen wir uns heiß und tief.
„Wenn er dein Lachen hören könnte, würde er dich sofort nehmen“, meinte Janine zu Lea. „Nein, Janine, er würde sich in Marikes helle Augen verlieben, in ihren Himmelsblick“, sagte Lea über mich. „Ach, Lea, mit deiner Figur und deinen dichten, langen Haaren würdest du ihn bestechen“, gab ich zurück. Vielleicht nimmt er auch uns alle drei, lachten wir und kicherten und glucksten und zogen an unseren Joints.
Das Festival begann. Bands spielten, eine nach der anderen. Wir zogen uns die Musik rein, Bier und Grass. Wir feierten uns und unser Leben, wie es immer sein sollte, wie es niemals aufhören dürfte. Es war ein Rausch und ein Traum, der Traum vom perfekten Leben.
Und nun kam Cinnamon, unser Highlight, am frühen Nachmittag des dritten Tages. Noch einmal schnell aufs Klo, denn dann würden wir uns nach vorne drängen, am besten ganz nach vorne, da gab es dann kein zurück mehr.
„Wir warten hier“, sagten Lea und Janine, „beeil dich!“
Ich lief los, und scheiße, da war natürlich eine lange Schlange vor den Toiletten, vor allem bei den Frauen. Ich hätte es mir ja denken können. Es musste doch noch andere Toiletten geben, ich war mir sicher. Jedenfalls glaubte ich, schneller zu sein, eine weiter entfernte Toilette irgendwo im Schloss zu finden und wieder zurückzulaufen statt hier zu warten und es garantiert zu vermasseln. Das würden mir Lea und Janine nie verzeihen!
Also lief ich los. „Ist da noch ein Klo irgendwo?“, fragte ich die Ordner, doch sie zeigten in die Richtung zurück, aus der ich gekommen war. Ich lief dennoch weiter, fragte wieder einen Ordner. Es war ein Rastatyp, der würde auf der Bühne auch gut kommen, dachte ich. Der Ordner zeigte den Gang entlang, „hier weiter“, sagte er und lächelte mich echt süß an, „ um die Ecke und nochmal um die Ecke, dann kommt eine kleine Holztür auf der rechten Seite. Wenn die offen ist, hast du Glück gehabt, da geht’s nämlich zur Personaltoilette. Du musst nur die Wendeltreppe hoch, also ziemlich hoch“, sagte er grinsend, „aber du hast jetzt eh keine Wahl mehr. Ich nehme an, du willst Astor, ich meine Cinnamon, nicht verpassen? Also lauf!“ Er zwinkerte mir zu, und ich rannte. „Danke vielmals“, rief ich noch und dachte, „der ist auch knuffig. Wenn ich Astor nicht haben kann, dann so einen“.
Den Gang entlang und um die Ecke, Mist, da ist abgesperrt und steht ein Schild „Durchgang nur für Personal“. Davon hat der coole Ordner nichts gesagt, na echt nett. Aber was soll’s, da ist niemand, schnell über das Absperrgitter geklettert und weiter, bin ja schließlich auch cool, schnell weg, weiter, um die nächste Ecke. Ich renne und renne, der Gang geht wohl nie zu Ende, ist irgendwie so lang wie die ganze lange Seite des verdammten Schlosses. Halt, hier ist die Tür, fast hätte ich sie verpasst. Eine kleine, unscheinbare Holztür, braun lackiert und eine schmiedeeiserne Klinke, die ist alt. Ich fasse sie an, drücke runter, und ja, sie geht auf. Schnell rein, Tür hinter mir zuziehen und ja, da ist die Wendeltreppe. Huch, ist das eng, das ist ja eigentlich gar nichts für mich Klaustrophobikerin. Doch, da hatte er recht, der Rasta, ich habe jetzt wirklich keine Wahl mehr. Scheiße, Lea und Janine, ich hoffe, ihr wartet nicht zu lange. Geht ohne mich, auch wenn das sowas von sch------ade ist, ihr würdet mir das nie verzeihen.
Ich renne die Treppen hoch, es ist eng und recht dunkel, nur ein ganz feines Dämmerlicht kommt hier rein in diesen Schneckenturm zur Personaltoilette. Was, wenn der Ordner mir was erzählt hat, wenn er mich irgendwo ins Nichts geschickt hat? Vielleicht weiß er selbst nicht einmal, was hinter der Holztür ist, hat sich einfach einen Spaß gemacht. Vielleicht ist da oben eine verschlossene Tür… Ich muss langsamer machen, es ist hölle steil und einfach nur verdammt eng. Nee, Angstkriegen ist jetzt nicht angesagt, echt nicht. Ich versuche ruhig zu atmen, obwohl mein Herz pumpt und rast, als würde Astor mich in die Arme nehmen und mich küssen. So etwa müsste das sein, wenn er seine Lippen auf meine presst, also stelle ich mir lieber das vor statt eine geschlossenen Tür da oben. Ganz zu schweigen von Gedanken, was dahinter ist, und dass ich eigentlich schon die ganze Zeit dringend pissen muss.
Oder was ist, wenn ich jetzt umdrehe und wieder runterrenne, und dann ist die Tür unten zu. Nein, nein, Astor, küsse mich, halte mich in deinen Armen... Ich rieche deinen Schweiß, Dein Bodyperfume, Cinnamon Dream.
Das Konzert muss schon angefangen haben. Ganz dumpf höre ich die Musik krachen, oder ist das nur eine Halluzination in meinem Ohr? Ach Lea, Janine, bitte bleibt meine Freundinnen, egal, was passiert. Ob ich euch überhaupt einmal wiedersehe?
Ich muss im höchsten Turm des Schlosses sein, die Wendeltreppen hören nicht auf, nein, ich bin gefangen in einer Phantasie, ich hab da was Falsches geraucht und bin auf einem Horrortrip gelandet.
Schweißgebadet, meine Füße rutschend in den Turnschuhen, klettere ich weiter, gebe nicht auf.
Weiter, weiter, weiter, und da: das Ende der Wendeltreppe.
Die Tür zur Personaltoilette, ebenfalls eine schlichte Holztür, diesmal unlackiert, aber wieder mit schmiedeeisernem Griff. Meine nasse Hand klammert sich darum und drückt: auf.
Die Tür geht auf. Ich stehe in einer kleinen, runden Kammer, ganz oben im Schloss.
Da sitzt eine und macht etwas mit Wolle, schaut mich an.
„Tschuldigung“, keuche ich, kurz vorm Kollaps, „dürfte ich hier mal aufs Klo?“
Das Mädchen, etwa in meinem Alter, lächelt und zeigt auf eine Tür. Ich nichts wie rein und endlich, endlich pinkeln. Ausatmen. Den Oberkörper vorlehnen, die Ellenbogen auf den Schenkeln. Ich glaube, ich habe wirklich was Falsches geraucht. Hoffe, Lea und Janine sind nicht auch auf so einem Trip. Ich könnte heulen. Ich glaube, ich brauche Hilfe.
Da ist dieses Mädchen, eine wie ich, vielleicht ist es Lea oder Janine, irgendein Bild von ihnen aus meinem Unterbewusstsein. Eher die superschlanke Janine mit den langen, glatten Haaren, so wie sie vielleicht vor hundert Jahren ausgesehen hätte.
Ich lasse meinen Urin ausströmen und warte, dass sich mein Atem beruhigt.
Ein Dröhnen von weit unten, Cinnamon rockt.
Immerhin, ich habe eine Toilette gefunden, wie auch immer es jetzt weitergeht.
Ist ein altmodisches Badezimmer, alles aus Holz und zum Händewaschen ein Bottich mit Wasser. Seife und ein Handtuch liegen daneben auf einer Kommode. Ein Spiegel, darin ein rotes, nasses Gesicht mit aufgerissenen Augen. Unter dem Rot tritt weiße Gesichtsfarbe hervor, kreideweiß. Jetzt nicht umfallen, niemand findet dich hier. Alles wird gut.
Ich gehe wieder ins Zimmer. Das Mädchen sitzt an einem hölzernen Gestell und dreht Wolle zu einem Faden, wie es aussieht. Sie hält eine lange, spitze Nadel in einer Hand. Trägt ein schönes Kostüm, altertümlich, mit gestickten Rosenmustern auf einem feinen Stöffchen. Kunstvolle Hochsteckfrisur.
„Bist du Schauspielerin?“, frage ich, immer noch leicht keuchend.
Sie schaut mich an. Hammer Augen, wirklich, groß und dunkelblau, wie Juwelen, Lapislazuli glaube ich.
„Aurora“, sagt sie. „Ich heiße Aurora, und du?“
„Äh, Marike“, antworte ich.
„Setzt dich mal“, sagt Aurora, „du bist das Treppensteigen nicht gewöhnt, oder?“
Sie hat eine eigenartige Aussprache. Ich kann den Akzent nicht einordnen.
Lasse mich auf den Holzstuhl ihr gegenüber fallen und lächele das Mädchen an. Es kann nicht schlecht sein, bei ihr gelandet zu sein, denke ich, ob das jetzt ein Trip ist oder nicht. Wäre da nicht die Musik. Astors Stimme ist deutlich zu hören von draußen unten. Die Gitarre, die Band. Ich seufze, schaue mich um. Außer einem altmodischen, doch frisch bezogenen Holzbett ist nichts weiter in diesem kleinen Raum. Ich stehe wieder auf und gehe zum Fenster. Keine Fensterscheibe, die frische Luft kommt herein. Das beruhigt mich. Neugierig beuge ich mich vor, sehe hinaus.
Da liegen die Wiesen, breiten sich aus bis zu bewaldeten Hügeln, davor die Parkplätze, Autos und Menschen, Menschen, Menschen. Wir sind ganz schön hoch. Ich lehne mich ein wenig hinaus und drehe den Kopf, um rundherum zu schauen. Zweifellos bin ich hier oben im Schlossturm und unten spielt Cinnamon, auf der anderen Seite der Mauern. Gerade stimmen sie ihren Superhit Whirling Clouds an. Die Stimmung ist jetzt auf dem Höhepunkt. Die Mädchen kreischen und heulen. Zu diesem Zeitpunkt wird dann immer eine riesige Zimtwolke über die wogende Menge gesprüht. Janine und Lea mitten darin. Ich sehe sie vor mir, während die Gesamtheit von Musik und Johlen hier oben als diffuses Rauschen und Dröhnen ankommt. Astors Stimme inmitten der vibrierenden Wolke. In whir-ling, whir-ling clouds, we fly high into the sky.
„Super Aussicht“, sage ich und will mich wieder umdrehen, um zu fragen, was Aurora von Cinnamon hält und ob sie auf Astor steht. Da stößt sie einen spitzen Schrei aus. Ich fahre herum.
„Es ist nichts“, sagt sie, ich habe mich nur gestochen, hier mit der Nadel“. Sie zeigt mir ihren Finger, an dem ein Tropfen Blut prangt.
„Was machst du da überhaupt?“, frage ich, doch Aurora antwortet nicht. Die Nadel und das Wollschiffchen fallen zu Boden. Ihre Arme sinken herab, sie steht auf, taumelt zum Bett und fällt auf die schneeweiße Bettdecke. Ihre Augen fallen zu, der Mund klappt auf. Sie ist wirklich eine gute Schauspielerin. Nur, was ist das für ein Stück, und was mache ich darin?
„Hei!“, rufe ich und da merke ich, dass die Musik ganz plötzlich aufgehört hat zu spielen.
Es ist still. Ganz still. Nur das Rauschen des Windes vorm Fenster ist zu hören.
Und das Rauschen in meinem Kopf.
Aurora auf dem Bett. Ich gehe zu ihr, fasse ihr Handgelenk und taste den Puls. Sie ist nicht tot, sie schläft. Ihr Puls geht leise wie auf Katzenpfoten. Ich lege meine Hand auf ihre Stirn. Sie ist weder heiß noch kalt. Wie hingeflossen liegt Aurora auf dem weißen Laken in ihrem Rosenkleid, einfach hinreißend. Wenn ich Astor wäre, würde ich nicht zögern…
Doch Aurora atmet nicht. Zumindest ist nichts zu hören und zu spüren. Ich beuge mich über sie, lehne mich ganz nah mit meinem Gesicht an ihres, halte mein Ohr an ihre Nase, den Mund. Nichts.
Ich gehe wieder ans Fenster. Was ist passiert? Warum ist die Musik abgebrochen und auch sonst nichts zu hören? Warum gibt es kein Geschrei, keine Massenpanik? Wieso höre ich die Menschen nicht?
Und wie ich hinabsehe, kann ich keine, aber auch wirklich nicht die geringste Bewegung erkennen in den Massen. Alles ist erstarrt, alles ums Schloss und mit Sicherheit auch darinnen. Vielleicht auch alles außerhalb Strahlenbergs und weiter. Vielleicht ist die ganze Welt ganz plötzlich in Auroras Totenschlaf gefallen. Alle und alles, außer mir.
Oder? Hallo, ist da noch irgendwo wenigstens eine Maus, die durch die leeren Gänge und zwischen den Füßen der Erstarrten herumläuft, eine Spinne, die sich von einer Gewölbedecke herabläßt und Zimmerecken einwebt, eine summende Stubenfliege?
Nun bemerke ich erst, dass vor mir, zum Greifen nah, ein Vogel in der Luft steht. Die Sonne lässt seine Flügel golden leuchten, ich kann in seine kreisrunden, starren Augen sehen.
Ich halte mich am Fenstersims fest. Eine Art Lähmung steigt in mir auf und zieht sich wie eine zweite Haut über mein rasendes Inneres.
Ich bin alleine.
Lea, Janine, Astor, Aurora, der Vogel. Ich, außerhalb.
High we fly, into the sky, in whirling, whirling clouds.
Meine Kehle ist trocken, meine Hände zittern.
Ich setzte mich ans Fußende zu Aurora aufs Bett und versuche, mich zu fassen. Ich höre das Rauschen vorm Fenster, oder ist es wirklich nur in meinem Kopf? Nein, der Wind geht, die Luft bewegt sich. Es gibt Hoffnung.
Ich springe auf, stürze zur Tür und renne die Treppen hinunter, renne und renne, unten angelangt öffne ich die Tür, renne den Gang entlang zurück zum Schlosshof. Da steht der Ordner mit den Rastalocken, regungslos. Die Menschenschlangen vor den Toiletten, die Crowd, die Cloud. Lea und Janine, die treu auf mich gewartet haben und auf einen Platz an der Bühne verzichteten. Tränen schießen in meine Augen. Ich umarme meine Freundinnen, sie atmen nicht. Sie sehen mich nicht, hören nicht, spüren nichts. Sie stehen da wie Statuen und glotzen ins Leere. Erstarrte, im Leben gefangene Figuren.
Ich sehe die Bühne, Astor mit hochgerissener Gitarre in der Hand, den Mund weit geöffnet, von Weitem. Ich kann mich nicht durch die Menschenmenge drängen, denn die Menschen sind unbeweglich. Ich ziehe an der Jacke eines Jungen, knuffe vorsichtig seinen Oberarm. Er rührt sich nicht, steht steif und stumm.
Die Angst will in mir aufsteigen wie eine Säule, ich möchte schreien.
Whirling, whirling Clouds.
Von Entsetzen gepackt stolpere ich hinaus aus dem Schloss, über die Zugbrücke. Überall Menschen, deren Anwesenheit mir vorkommt wie eine Farce.
Ich muss mich durch die Menge hindurchschlängeln, niemand weicht aus, niemand tritt in meinen Weg. Ich schreie in die von plötzlicher Leere überfüllte Welt. Horror, Angst und wildes Aufbegehren in mir reißen mich fort, hinaus ins Ungewisse. Hinter dem Parkplatz ist der Wald.
Die Sonne sinkt langsam, der Himmel färbt sich rot, orange und violett, dann immer tiefer werdend blau. Ich renne in die Dunkelheit.
Eva Wal, Mai 2020
Elefantenliebe
Frau Brahm
Frau Brahm sitzt am Fenster. Dort sitzt sie meistens und schaut hinaus in den Park.
Im Winter ist es draußen trüb und kahl, im Herbst färbt sich das Laub bunt, im Sommer ist es grün und dicht, und im Frühling kommen die Knospen hervor. Knoten sitzen an den Zweigen, die bilden Zeichen und Zeichnungen, das Alphabet einer fiebrigen Sprache. Und dann, aufeinmal, explodiert alles. Der japanische Kirschbaum ist eine Kuppel aus rosarotem Schaum.
Frau Brahm nimmt dieses Schauspiel mit Gleichmut hin, wie sie alles gleichmütig nimmt. Ihr Ausdruck, ihre Körperhaltung verändern sich nie, ob es draußen hell oder dunkel ist, ob die Natur hervordrängt, die Sonnenstrahlen wärmere Farben über die Rasenfläche zwischen den Bäumen vor ihrem Fenster gießen, oder ob alles in Kälte und Nebel gehüllt steht, der Wind durch die entblößten Bäume und durchs braune Laub am Boden fegt.
Auch, wenn Frau Brahm keine Regung zeigt, wirkt sie nicht teilnahmslos, sondern aufmerksam. Was für Bilder gehen wohl hinter ihrer runzligen Stirn herum, tagein, tagaus wie Licht und Wetter?
Frau Brahm hat keine Angehörigen. Glücklicherweise hinterließ ihr verstorbener Mann genug Geld, so dass sie in diesem komfortablen Alterswohnsitz, der Seniorenresidenz Kirschblüte, den Rest ihrer Lebenszeit verbringen kann. Vorausgesetzt, sie wird nicht zu alt. Genauergesagt reicht ihr Vermögen bis zu ihrem 85. Geburtstag, keinen Tag länger. Danach wird sie in ein gewöhnliches Altenheim umziehen müssen.
Da Frau Brahm nicht spricht und keine Mine verzieht, weiß man nicht, ob sie versteht, was man ihr sagt. Man hat versucht, ihr schonend beizubringen, dass ihr 85. Geburtstag unmittelbar bevorsteht, am 28. März 2022.
Das Pflegepersonal der Seniorenresidenz Kirschblüte will der eigenartigen Frau Brahm einen würdigen Abschied bereiten. Alle mögen sie. Ihre Besonderheit, das, was in ihrer stillen Aufmerksamkeit liegt, scheint aus ihr zu dringen, aus ihren kleinen, dunklen Augen, die mit der Zeit immer weiter in sie hineinzusinken scheinen, als käme ihr Blick aus einem immer tiefer werdenden Brunnen. Sie hat etwas von einem Elefanten. Gutmütig, unendlich freundlich, aber dünnhäutig und außerordentlich empfindlich und empfindsam.
Eine der Pflegerinnen, Minna, liebt Elefanten. So wundert es nicht, dass sie auch Frau Brahm besonders mag. Minnas Elefantenliebe geht sogar noch weiter. Heimlich verehrt sie die alte Frau fast wie eine Gottheit. Für ihren Geburtstag wird Minna einen Kuchen backen und ein paar Kirschzweige aus dem Park bringen, was eigentlich nicht erlaubt ist. Die Heimleitung hat ihre stille Zustimmung gegeben.
Frau Brahms Lebenslauf ist nicht von Bedeutung, sie ist eine ganz gewöhnliche Frau. Nicht sehr weit ist sie gekommen im Leben, hat nichts Besonderes erreicht. Angefangen von der Schulzeit, da hat sie gerade mal mit Ach und Krach das Abitur geschafft. Danach mehrere abgebrochene Studiengänge und dann Reisen nach Asien, dazwischen weitere angefangene Ausbildungen. Frau Brahm interessierte sich für Sprachen, große Tiere in fernen Ländern, Literatur, Archäologie, aber nirgendwo brachte sie es zu einem Beruf. Sie jobbte und heiratete schließlich. Bekam Zwillinge, die früh starben, an ihrem fünften Geburtstag. Das ist wohl das Außergewöhnlichste an Frau Brahms Leben.
Es war ein Unfall, dessen Umstände nie aufgeklärt wurden. Bei einem Spaziergang mit ihren Kindern überquerte Frau Brahm eine Landstraße, wahrscheinlich hielt sie die Zwillinge, zwei Mädchen, an den Händen. Sie wurden von einem Auto erfasst. Frau Brahm überlebte, die Kinder waren sofort tot. Der Fahrer des Autos beging Fahrerflucht und konnte nie ermittelt werden.
Frau Brahm erlitt einen so großen Schock, dass sie sich bis heute nicht mehr an die Mädchen erinnert. Sie weiß nicht einmal, dass sie je Kinder hatte.
Doch ihr Leben ging weiter. Sie begann, sich für Kunst und Kunstgeschichte zu interessieren, fing an, selbst zu zeichnen, malte Aquarell, und manchmal schrieb sie Gedichte. Sie schrieb in Briefform, es waren also Briefe in Gedichtform, die sie immer an eine Mina und Lina adressierte und sorgfältig in einer Schublade ihres altmodischen Sekretärs verwahrte.
Mit ihrem Ehemann hatte Frau Brahm zeitlebens ein unkompliziertes, friedliches Verhältnis. Das Geheimnis lag darin, dass die beiden über genügend innere Distanz verfügten, und er über genug Einkommen. Das teilte er gerne mit seiner Frau, die nicht in der Lage war, einen Brotberuf auszuüben. Dass ihr Ehemann Geliebte hatte, störte Frau Brahm nicht. Er verheimlichte seine zahlreichen Affären keineswegs. Dass aber Frau Brahm eine ganze Reihe Liebhaber aufzuweisen hatte, das ahnte er nicht und hätte es wohl auch nicht für möglich gehalten. Wer außer ihm fand schon etwas an dieser verschlossenen und auch nicht besonders attraktiven Frau?
Über das Liebesleben von Herrn und Frau Brahm ist aber in keiner Akte etwas erwähnt.
Ende gut, alles gut. Herr Brahm starb eines natürlichen Todes und hinterließ seiner Frau seine Ersparnisse. Er war Optiker oder Lehrer gewesen. Frau Brahm weiß das nicht, es muss aber ihrer Akte zu entnehmen sein.
Es ist der 27. März 2022. Die Pflegerin Minna betritt Frau Brahms Zimmer. Sie lächelt. Schaut in das Gesicht der alten Frau, in dem sie eine Elefantengottheit zu erkennen meint. Minna geht zu Frau Brahm, berührt sanft ihren Oberarm, steicht sogar ganz leicht über eine Wange. Dann nimmt sie Frau Brahm am Arm, so dass diese aufsteht und mit Minna ins Bad geht. Frau Brahm soll heute gründlich gewaschen werden.
Minna läßt heißes Wasser in die Badewanne ein. Frau Brahm ist ziehrlich und beweglich, sie kann gut noch selbst in die Badewanne steigen und sich waschen. Natürlich kann sie auch das Wasser einlassen, ihren Lieblings-Badezusatz mit Kakaobutter hinzugeben und alles vorbereiten: frische Handtücher, frische Wäsche zurechtlegen, den Badeschwamm. Normalerweise tut sie das auch. Doch dies ist Minnas Dienst an Frau Brahm, einen Tag vor ihrem 85. Geburtstag.
Frau Brahm lächelt. Das heißt, ihr ganzes Wesen lächelt, ohne dass sie dabei eine Mine verzöge.
Minna hilft Frau Brahm, sich zu entkleiden und in die Badewanne zu steigen. Sie summt dabei eine Melodie, ganz leise, eine kleine Melodie, die so klingt wie Kirschblütenschaum.
Dann geht Minna. In zwanzig Minuten werde sie zurückkommen, sagt sie, und falls etwas sei in der Zwischenzeit, falls Frau Brahm etwas wünsche oder brauche, dann, das wisse sie ja, könne sie die Glocke läuten.
Frau Chan
Frau Chan schreibt ihr erstes Gedicht in einer selbsterfundenen Sprache. Sie sitzt auf ihrem gold schimmernden Thron, gegossen aus dem Wachs wilder Bienen. Zitronenfalter flattern um sie herum, und um ihre Füße hat sich eine blau glänzende Schlange gewickelt. Faru Chan schreibt mit einem eingerollten Blatt der Zimtpflanze.
Alle Türen und Tore im Palast stehen weit offen, damit der Wind durch alle Zimmer, Flure und die großen Hallen wehe und den Duft der gerade aufgegangenen Kirschblüten aus dem Park hereinbringe.
Frau Chan ist der einzige Mensch in diesem Palast. Sie lebt hier mit ihrer Schlange, den Zitronenfaltern, anderen exotischen Schmetterlingsarten, den wilden Bienen und mit tausend farbigen Elefanten. Frau Chan hat kein Gefolge, keine Dienerschaft und keine Familie. Um sie herum wandeln die Elefanten auf ihren weichen Elefantenfüßen, mit ihren schwingenden Rüsseln und fliegenden Ohren, ihren kleinen, dunkel blinkenden Augen, als käme ihr Blick aus tiefen Brunnen. Die kreidige, runzlige Haut der Elefanten leuchtet in tausend Farben. Jedes der erhabenen Tiere hat eine eigene Farbe. Tausend Elefanten unterschiedlicher Farbe wohnen in Frau Chans Palast. Eigentlich ist es genau andersherum: Frau Chan wohnt im Palast der tausend farbigen Elefanten.
Die Wände im Palast sind aus Glas, die Decken aus durchsichtiger Seide, die Böden, Treppen und Säulen aus Porzellan. Ein großer, prächtiger Park voller kostbarer Bäume, Blumen und Kräuter umgibt den Palast.
Frau Chans schulterlange Haare sind glänzend schwarz, sie hat kakaobraune Haut und purpurne Hände, aus denen die Knöchel elfenbeinweiß hervorstehen. Ein süßlicher Geruch geht von ihr aus und verströmt sich in ihrer Aura. Nun hat sie ihr Gedicht beendet und schreibt das Datum darunter. 82. März 2202. Eigentlich ist das Gedicht ein Brief, ein Liebesbrief an die Elefantenkinder Mina und Lina. Hellblau und dunkelgrün sind die beiden Zwillingselefanten. Sie unterscheiden sich nur in winzigen Nuancen von anderen hellblauen und dunkelgünen Elefanten. Außerdem wechseln die Elefanten ständig die Farbe. Hellblau und dunkelgrün sind Minas und Linas Farben am 82. März 2202, als Frau Chan einen Brief an sie schreibt.
Draußen im Park rauschen die Bäume, und die tropische Fauna gibt ihr immerwährendes Konzert.
Minna
Als Minna nach zwanzig Minuten pünktlich wiederkommt, findet sie das Bad leer. Frau Brahm ist nirgends zu finden. Das Badewasser ist von eigenartiger Farbe, blaugrün etwa, etwas bräunlich und grau. Die Luft ist schwer und heiß. Es riecht nach Zimt.
Minna geht durch Frau Brahms Zimmer zum offenen Fenster. Sie schaut in den Park, läßt ihren Blick durch die Bäume und über den gepflegten Rasen schweifen, dann schließt sie das Fenster.
Gerade, bevor sich die Fensterrahmen berühren, fliegt ein Brief durch den letzten offenen Spalt.
Die Altenpflegerin nimmt den Brief an sich, ein etwas modriger Geruch strömt ihr entgegen. Sie steckt den Brief in die Tasche ihres weißen Kittels. Dann verlässt sie das Appartement der Frau Brahm und schließt die Tür. Geht über die aufeinmal menschenleeren Flure, die Treppen hinunter zum ebenfalls menschenleeren Empfang. Ihre weichen, ledernen Schuhe machen fast kein Geräusch auf dem elfenbeinweißen Porzellan. Die Türen muss sie nicht öffnen, denn alles ist offen. Als Minna durch die letzte Tür der Seniorenresidenz Kirschblüte ins Freie tritt, in den Park, nimmt sie den Brief aus der Tasche, zieht ihren Kittel aus, wirft ihn hinter sich, öffnet im Gehen den Brief, liest ihn und wirft ihn dann in die Luft. Er schwebt davon wie ein Flügel, hellblau.
Dahinten, unter den Kirschblüten, steht ein dunkelgrüner Elefant. Und wie Minna auf ihn zugeht, fällt der Buchstabe “n” aus ihrem Namen. Er bleibt auf dem Parkweg liegen wie ein kleiner Zweig.
Eva Wal, total surreal
1. April 2020
Oksanas Dienst
Ich sitze mir gegenüber im Spiegel. Finde mich häßlich. Das macht das Licht, denke ich, und: das machen die extra. Fast schäme ich mich des Verschleißes, der mir entgegensieht. Doch sah ich schon müder aus, war erschöpfter, auch wenn mein Haar heute fahler und grauer ist.
Der Friseur auf der Goltsteinstraße ist nicht billig. Dafür führt man mich erst einmal in einen abgedunkelten Raum und läßt mich unter einer gigantischen Haube Shampoo verschwinden. Schaum türmt sich auf meinem Kopf, Schaum verschließt ein Ohr, das Porzellan des Waschbeckens drückt in meinen Nacken. Die Hände meiner Friseuse, Oksana heißt sie, bewegen sich auf meiner Kopfhaut. Ich höre die weiche Stimme aus einem osteuropäischen Gesicht, unter dem sich ein leicht gerundeten Körper bewegt. Kühles und warmes Wasser strömt an meinem Kopf herab. Dann sitze ich wieder vor dem Spiegel, der mich häßlich macht. Oksana massiert leicht meinen Nacken und die Schultern, ich schließe die Augen. Schon bin ich geschmeidiger, und auch der Spiegel ist ein kleines bißchen freundlicher und gnädiger gestimmt.
Nun wird mein Nacken rasiert, die Haare darüber ganz kurz geschnitten. An der Schere prangt ein glitzernder Schmuck, ein kleines Detail, ein Beitrag zur Rechtfertigung der Preise. Oxana wendet ihr Handwerk an. Schnipp, schnapp, los geht’s, im Handumdrehen bin ich 38 Euro los. Ich kenne das: Spitzen schneiden, etwas mehr, es soll ein Schnitt sein, dass das Haar wieder fällt und eine Frisur erkennbar ist, die sitzt und eine Weile hält. Ganz schön kurz hinten, denke ich, lasse es geschehen, denn Haare wachsen schnell, und Oksana versteht ihr Handwerk.
Ich spüre Spannungen in meinen Handgelenken, etwas Festes, fast Verkrampftes. Meine Hände liegen unter dem Kittel, der mich umgibt wie eine Hülle. Eine Kutte, die mein geschnittenes Haar auffängt. Silberner Graupel. Kaum merke ich, wie die Haarschnipsel beständig, in feinster Quantität herabrieseln. Oksana scheint die Enden meines Haares in alle Richtungen zu spalten, zu schlitzen, zu sezieren. Aus den befreiten Spitzen strömt ein Glanz, der sich über den Spiegel legt und allmählich mein Gesicht weicher zeichnet, ebnet und schwingen lässt.
Wenn ich niemanden mehr habe, gehe ich zu Oksana, denke ich.
Schnipp, schnapp, sie ist ernsthaft, ich bin es auch. Neben uns wird über Karneval geredet. Ein plötzliches Lächeln von Oksana ist ein echtes Lächeln. Ich erwidere es, und das Lächeln springt in den Spiegel, der es wiederum zurückgibt. Mein Haar fällt, und nun nimmt Oksana einen großen, schwarzen Föhn zur Hand und fragt ganz harmlos: darf ich? Ich weiß, das kostet extra, aber ich ahne, dass nun das Handwerk zur Kunst wird und nicke. Wie sie auf vielfältige Weise mein Haar bearbeitet hat, wie eine Blidhauerin, so föhnt sie nun gleich eines Derwischs. Ein Wirbel, ein Tanz. Ja, es ist Kunst und ich bin ihr Kunstwerk. Sie schneidet wieder, föhnt weiter, offenbart endlich ihren Kampf mit der Symmetrie: die eine Seite ist perfekt, aber die andere...! Sie bleibt geduldig, aber unerbittlich. Ich bin der Stein, den sie meißelt und nicht aufgibt vor Vollendeung der Form mit dem letzten Schliff und Glanz. Das Bild im Spiegel wird immer heller, weicher und voller wie mein Haar. Das Grau wird zu Silber. Ich sitze hier als ein Vogel, der gerupft und dabei aufgehübscht wird, die Flügel in Form gezupft, durchlüftet mit kunstfertigen Winden aus Oksanas Händen.
Mittlerweile fragt keine Friseuse mehr, ob sie färben soll. Verstummt sind die Stimmen, die mich hindern wollten, ungeschminkt und ungefärbt dem Alter entgegenzuschreiten. Doch nun denke ich auf einmal, dass ein wenig Lippenstift mir stehen könnte. Ich finde weiterhin, das Einreiben mit duftenden Ölen könnte ebenso zu Oksanas Zauberwerk gehören und durch erweiterte Massagen ergänzt werden.
Nun ist auch schon mein Pony geschnitten und zu einer perfekten Gesichtsrahmung geworden, der optischen Verbindung von rechter und linker Haarseite; links williger, glatter als rechts, wo Locke und Wirbel ihren eigenwilligen Schabernack treiben.
Nachdem Oksana ein paar Mal mit dem Spiegel einen Halbkreis um mich herumgegangen ist, damit ich mich ganz sehe, mit meinem Blick den verjüngten Kopf umkreisen kann wie der Mond die Erde und die Erde die Sonne, schüttele ich den Kopf leicht hin und her, lächele ich, und Oksana lächelt auch. Ihr Werk wird akzeptiert. Dem Stein gefällt die Form, in die er geschliffen wurde, und er belohnt die Künstlerin mit seinem Glanz.
Doch bevor der Vogel mit harmonischen Flügeln davonfliegen darf, wird das Werk bezahlt. Aus dem Spitzen schneiden für 38 Euro wurden nun 62 Euro für Oksanas Dienst. Ein Trinkgeld obendrauf. Auf Pflegemittel und Volumenspray habe ich verzichtet. Ich zucke nicht einmal, sondern unterschreibe, als fehle unter dem Werk nur noch meine Signatur. Dabei an Geld zu denken, wäre nichts als schäbig.
Ein letztes Mal lächelt Oksana, stolz nun, und sagt: Sie brauchen keinen Zopf, denn das wollte ich ja ursprünglich, bevor ich mich ihren Händen anvertraute: noch einen Zopf machen können. Doch jetzt sind Gummiband, Spange und Klammer überflüssig geworden. Weg damit! Auch davon bist du nun befreit, sagt meine Zauberin und entlässt mich endgültig in die Freiheit: bis zum nächsten Mal.
Ich öffne die Tür und trete wieder auf die Goltsteinstraße in den blauen Abend. Kühl, wie frisch geschnitten und geföhnt, fallen die Tropfen des Januarregens auf mein Haar. Ich merke, dass ich singe, wie ich zur Straßenbahn gehe. An die Mütze in meiner Tasche denke ich nicht einmal.
Köln, Februar 2020
Paris, im Juli 2019
Aggie, the Cat
Give what you can, take what you need.
Zehn Uhr, elf Uhr, dazwischen eine Stunde mit einer Gottheit auf meinem Schoß.
In Ancient Times Cats Were Worshipped As Gods; They Have Not Forgotten This, sagt Terry Pratchett.
Der oberste Raum von Shakespeare & Company ist auf einmal mein Wohnzimmer, ich ein Teil des Inventars mit dem Privileg dieser Hoheit auf dem Schoß, mitten im Paris der Touristen und Sensationen.
Hier oben eine Insel, überflutet und durchströmt zwar, doch der literarische und internationale Schlamm gehört zu den fruchtbarsten und kostbarsten Böden, die man wohl finden kann.
Be not inhospitable to strangers/ let them be angels in disguise, steht über einem Durchgang in diesem alten, verwinkelten Gebäude.
Auf dieser Oasen-Insel kommen überall weitere kleine Inseln und Oasen zum Vorschein. Holzstühle, mit Stoff bezogene Lager, auf die man sich niederlassen kann zum Lesen, Eckbänke, eine Nische mit Piano sogar und hier, im ersten Stock, der Ledersessel neben dem Tisch am offenen Fenster. Auf dem Tisch eine Vase mit violetten und weißen Blumen. Irgendjemand sagt: oh look, a cat on the table, lavender, open window - how French can it get? Nun, das ist wohl der Blick durch die violette Frankophilen-Brille, der aus den strohartigen lila Blumen Lavendel macht und alles in betörenden Duft hüllt.
Zehn Uhr zehn.
Im Café neben dem weltberühmten Buchladen wollte man mich nicht bedienen, we are not open yet, obwohl es schon neun Uhr dreißig war, was genau der angezeigten Öffnungszeit entsprach, und obwohl schon mehrere Menschen an den Tischen ihr Croissant und den Kaffee genossen. Meine Antwort wurde ignoriert, und ich ging, wollte mir den Morgen nicht verderben.
Durch den Park nebenan rollt eine Touristenführung nach der anderen, Schläuche voller Menschen aller Kontinente werden hier ausgepresst. Zwischen den Handyfotos schnappt man ein paar Informationen auf. Da rein, da raus, wie die Fotos, wie die Menschen, welche Menschen?
Lächelnd verklärte oder gelangweilte Statisten vor steinernen Pendants, pardon, geht es doch hier allerorts um Denker, Herrscher, Heilige, in pathetische Posen gehauen, derer man gedenkt. Und ich gehöre nun einmal auch dazu, bislang auf der Seite der Statisten.
Das Croissant von Odette, dem Café hinter der nächsten Ecke des Parks, nur ein paar Schritte von Shakespeare & Company, ist köstlich und wurde mir mit einem echten Lavendellächeln verkauft.
Zehn Uhr zwölf.
Mein alter Sessel ist an der Oberseite einer Lehne schon so abgewetzt, dass er Einblick in seine Innereien gewährt. Doch selbst das wirkt gepflegt antik & how French can it get on this English speaking island. Ich kann nur ahnen, wer sich hier schon bequem angelehnt hat, den einen oder anderen Furz ließ und jenen oder welchen geistigen Erguss hervorbrachte. Über mir prangt eine Tafel mit einem Bild und Informationen zur Hauspatronin Sylvia Beach, die mich ob solcher despektierlicher Gedanken nur tadeln kann. Oder lächelt sie milde und humorvoll intellektuell?
Neben mir geht die tapezierte Tür auf, und jemand vom Staff kommt heraus. Immer wieder wird sich diese Tür öffnen und schließen, und meistens bekommt meine Schoßfreundin dann ein paar freundliche Worte mit einem Lächeln und eine Streicheleinheit en passent.
Ich frage nach ihrem Namen, den ich später auf einigen Zetteln im Nebenraum über dem Piano geschrieben sehe, und der sogar auf Wikipedia zu finden ist. Doch die freundliche Frau verrät ihn mir auch so: Aggie. Aggie, the Cat, chose my lap! Auf meiner schwarzen Parisbluse hinterläßt sie ihre Haare. Sie schnurrt und lässt sich von mir ihr prächtiges, grau-oranges, von dunkeln Streifen durchzogenes Fell streicheln, ihre langen, kräftigen, schneeweißen Schnurrbarthaare und Wimpern bewundern und überhaupt, ihre eigenwilligen Zeichnungen im geheimnisvollen Katzengesicht, weiß ums Maul, grüne Augen, distinct and mysterious. Ich streichele sie behutsam und fest, hoffe, mir ihre Gunst zu erkraueln, zu erhalten, und ich jubele mit Charles Dickens: What Greater Gift Than The Love Of A Cat? Ich zitiere gleichfalls Ernest Hemingway, der solches vielleicht sogar hier, in diesem Sessel, gedacht, gesagt, geschrieben haben mag: A Cat Has Absolute Emotional Honesty: Human Beings May Hide Their Feelings, But A Cat Does Not.
Mit der Katze auf dem Schoß werde ich angesehen wie eine Instanz, automatisch sehe ich mich selbst als eine solche und beginne, die Menschen auf das Fotoverbot hinzuweisen, sobald sie ihre Kameras zücken. Es funktioniert. Sie entschuldigen sich bei mir, oh sorry, yes, of course, nur die verwegenste Touristin sagt zu ihrer Verteidigung I did not know it’s for the cat, bevor sie das Handy zögernd zurücksteckt. Aber dann mache ich eine Ausnahme, als ein junger Vater seine kleine Tochter am Fenster fotografiert, und damit verliere ich die Lust an meinem selbsternannten Job. Was fällt mir ein? Und was bürde ich mir auf? Genug gespielt.
Zehn Uhr dreißig.
Ich habe Muße gefunden, bin mein Kopfweh losgeworden, meinen leichten Missmut. C’est moi et le chat. Zücke meine Schreibkladde und kritzele die Seiten voll mit Notizen für eben diese Geschichte. Aggie lässt sich davon natürlich mitnichten verstören oder gar vertreiben. Das hat sie mit meinem Kater zuhause auf dem Land gemeinsam. Katzen lieben Papier. Es geht mir wie Ray Bradbury: I Have My Favorite Cat, Who Is Also My Paperweight, On My Desk While I am Writing. Nur habe ich heute statt eines desks einen ganz besonderern fauteuil mit einer Favorite Cat und einem Zuhause auf Zeit, das mich für eine Stunde von meinem Touristendasein erlöst. Sehr d’accord mit dem von mir sehr verehrten Jean Cocteau, lasse ich diesen für mich sprechen: I Love Cats Because I Enjoy My Home; And Little By Little They Become Its Visible Soul.
All diese Zitate habe ich übrigens aus einem Buch, das ich vor knapp einem halben Jahr bei einem vorigen Paris-Besuch hier erstand und meinem mari zum anniversaire cinquante schenkte, zusammen mit eben dieser Paris-Reise. Voilà.
Zehn Uhr vierzig.
Ich sehe keinen Anlass, diesen Platz zu verlassen, vor allem, weil auch mon mari sich in ein Buch vertieft hat und nicht zum Gehen drängt.
Im Februar diesen Jahres, als ich zum ersten Mal Shakespeare & Company besuchte, war ich auch schon Aggie begegnet. Sie saß auf dem Schoß einer Frau wie mir, und auch ich dachte damals, die Dame sei Personal oder eine Schriftstellerin, gehöre zum geistig-intellektuellen Mobilar.
Jeder bewundert dieses außerordentlich schöne, geschmeidige und zutrauliche Tier, das sich neben seiner auratischen Katzen-Präsenz durch samtenes Schnurren und eine hohe, feine, schmeichelnde Miau-Stimme bemerkbar machen kann. Viele wollen sie streicheln, und sie lässt es geschehen. Eine Frau, Deutsche wie ich, ist sogar so übergriffig, Aggie zu streicheln, während sie auf meinem Schoß von mir gestreichelt wird. Fast berühren sich unsere Hände, kreuzen sich im Revier des Katzenfells.
Nachdem die Frau diese Grenze überschritten hat und ihrem Partner dabei von ihren Gefühlen berichtet und dass sie an ihre Katze zuhause denkt (Luder!), trauen sich auch zwei umstehende Kinder, die ihre vor Verlangen zuckenden kleinen Händchen bis dahin nur schwer zurückhalten konnten, die Katze wenigstens zu berühren. Aggie läßt es zu, und ich lasse es geschehen mit ihr in meinem Schoß. Große Güte! Einige Minuten sehe ich durch ihre grünen Augen, die mir fast gläsern hell, aber undurchsichtig erscheinen. Höre die Sprachen, spüre das Drängen, den Vorstoß der unbekannten Energien, die Fremdheit der angels in disguise.
Was ist sie für eine Frau, die es sich heute auf meinem Sessel bequem gemacht hat und denkt, dass ich mir sie ausgesucht habe, dabei habe ich mir meinen Sessel erobert! Was also ist sie für eine? Nicht groß, nicht jung, hellhäutig wie die meisten Frauen, die hierher kommen. Ihr eigener Duft ist vermischt mit Creme und Parfum, wie bei allen Frauen hier. Europäerin, eher aus dem Süden als aus dem Norden, vielleicht sogar Französin. Warm und bedürftig ist ihr Schoß. Schwarze, leichte und schwerere Kleidung liegt über ihrer Haut und ihrem Duft. Ihre Schenkel sind weich und fest genug, mir als fauteuil zu dienen. Sie ist ein gepolstertes Möbel aus massivem Holz, Obstholz mit Drehwuchs, würde ich sagen, Pflaume oder die etwas sanftere Birne. Da sind Türen überall an ihr. Die dort am Knie ist geschlossen. Hier, diese mit dem Messinggriff steht am weitesten auf. Ich schlüpfe hinein... Doch das ist eine andere Geschichte. Vielleicht sogar ein Krimi?
Da ich hier in dieser edlen Company in der Kriminalbuchabteilung gefunden wurde, hat man mich in Anlehnung an Agatha Christi Aggie genannt. Das war das große Los, dass ich hier bleiben konnte! Und ich wusste wie’s geht, habe lange genug auf der Straße gelebt (aber das ist wieder eine andere Geschichte).
George Whitman, der ehemalige Besitzer, der seinen prominenten Buchladen Mistral nach dem eigentlichen Shakespeare & Company der tapferen Sylvia Beach umbennante und auch seiner Tochter den Namen der Ulysses-Verlegerin verpasste, war natürlich Katzenliebhaber. Ich bin die Nachfolgerin seiner Kitty. George hatte nach dem Motto gelebt: Give what you can, take what you need. Ich lebe es auf Katzenart: Take what you can, give what you need.
Dazu gehört auch eine Eigenart von mir, nämlich, dass ich meine Schöße protokolliere; also die, auf denen ich Platz genommen habe. Ich schreibe sie alle auf, übertrage meine Eindrücke auf imaginiertes Papier, papier imaginé, kratze, ritze, zeichne mit Geheimtinte sozusagen, ganz und gar immateriell, versteht sich.
Ich, Aggie, protokolliere nun mein Schoß-fauteuil, de 10 au 11 heurs, mercredi, le 17ième Juillet 2019. Meine Protokolle stecke ich in die Bücher, unter denen sich die Regale biegen. Doch meine Aufzeichnungen fügen ihnen kein physisches Gewicht hinzu. Überall schiebe ich sie hinein. Da war zum Beispiel die Japanerin im Blumenkleid, gestern Abend, kurz vor Ladenschluss. Tom Wolfe, page 147/ 148, glaube ich. Weiter kann ich mich nicht erinnern.
Ich lebe im Moment, mein Gedächtnis ist ein Archiv, das hier zwischen den Zeilen raschelt. Unsichtbar und undurchsichtig wie mein grüner Katzenblick.
Während ich durchs Haus streife oder irgendwo einnicke, egal, ob am Tag, während der Touristenschwemme, oder nachts, wenn ich hier alleine bin (mit den Ratten und Mäusen, by the way), flüstert es mir entgegen von den Buchrücken, den Regalen, den Stühlen, aus den Ecken und von den Fotos: Irving Stone, Viginia Woolf, Robert Hargreaves, Simone de Beauvoir, Ernest Hemingway, Allen Ginsberg, Djuna Barnes, William S. Burroughs, James Joyce, George Orwell, F. Scott Fitzgerald, Anne Carson: Float, Rumi Love Poems, Poems by Elizabeth Bishop, Montaigne (When I Am Playing With My Cat, How Do I Know She Is Not Playing With Me?), Donald Maclean: British Foreign Policy since Suez, Paradise Lost, Ezra Pound, Rimbaud: Season in Hell, Mary Oliver: Devotions, Bilingual Classical Poems By Arab Women, John Muir: Wilderness Essays, Jack Kerouac: Desolation Angels, Chinua Achebe: Africas Tarnished Names, D.H. Lawrence ...
Ach ja, bevor der Moment verstrichen ist, un moment s’il vous plaît, hier stecke ich das neuste Protokoll hinein: of Cats and Men von Sam Kalda, page 26/ 27, quotes Mark Twain: A Home Without A Cat - And a Well-Fed, Well-Petted, And Properly Revered Cat - May Be A Perfect Home, perhaps, But How Can It Prove Title?
Take what you can, give what you need.
Bye for now, Aggie
Bulgarische Begegnungen
Ich will einen Teee kochen und lerne Boyans Garten kennen
Am Grund meiner Thermoskanne warten Fenchelsamen auf kochendes Wasser. Chai, sage ich und zeige die Kanne, schütte ein paar Samen auf meine Hand. Doch Boyan, unser Gastgeber, bringt mir einen Teebeutel für Chai. Der nächste Versuch: er kommt mit Woda mineral.
Das Wort “kochend” finden wir im Wörterbuch, können es aber nicht aussprechen. Und Boyan will nicht lesen und nicht verstehen. Da, der Kessel, das Wasser, meine Kanne, Chai spezial.
Ich nehme den Magen zur Hilfe, denn stomach versteht er und man kann unmissverständlich Magenschmerzen zeigen mit Grimasse dazu.
Da geht er in den Garten und kommt mit einer Ringelblume wieder, leuchtend orange streckt sie mir ihre feinen Blütenblätter entgegen. Ich esse Blatt für Blatt. Doch Boyan ist noch lange nicht bereit, Wasser in den Kessel zu füllen und eine Gasflamme zu entzünden. Wieder verlässt er den kleinen Frühstücksraum und geht in den Garten, in den Schuppen, bringt Thymian, ah, Thymian!, Minze, ah, Minze!, und Linde, ah, Linde! Ich rieche und koste.
Endlich entscheidet sich unser Gastgeber, eine Flamme auf dem Gaskocher zu entzünden und den mit Wasser gefültlen Kessel darauf zu stellen. Dann geht er in den Garten und wendet sich den zwei Kanarienvögeln, Papageien, zu, die im Käfig unter Weinreben hängen. Es sind seine Lieblinge. Doch auch das Hühnergehege, vor dem der Kettenhund Rita sein Dasein fristet, muss geflickt werden und Rita bekommt heute das Wurstbrot, das vom Frühstück des Vortags übrig blieb und das wir auch heute nicht essen wollen. So vergißt Boyan das Wasser auf der Gasflamme und ich gieße meinen Tee auf.
Erdbeeren und Akazien
Nach drei Nächten in Bela Rechka füllt sich das Dorf. Boyan, unser Gastgeber, hat die Kapazität seines Hauses voll ausgenutzt und noch vier weitere Gäste aufgenommen. Seine drei Zimmer sind also voll belegt, die Rolle dünnstes Klopapier pro Tag muss nun eben für sechs statt zwei Personen reichen. Meine Zimmergenossin und ich beschließen, in den zirka zehn Kilometer entfernten Nachbarort zu reisen, um dort schwimmen zu gehen, bevor das Festival beginnt. In Varshets gibt es ein Schwimmbad mit Wasser aus einer mineralischen Quelle.
Unsere neuen Zimmernachbarinnen sind frühmorgens angekommen und konnten auf dem brettharten Bett im Zimmer ohne Fenster überhaupt nicht schlafen. Sie wollen mitkommen, um Geld zu wechseln. Und dann werden wir noch einkaufen. Also wird das Taxi organisiert und eine Route besprochen, die der Taxifahrer fahren soll: zuerst zur Bank, dann zum Schwimmbad, dann zum Einkaufen und zurück. Gut.
Hier in Bulgarien ist es üblich, miteinander zu reden, egal, ob man dieselbe Sprache spricht oder nicht. Der Taxifahrer fährt los und fängt gleich ein Gespräch an mit mir, die ich auf den Beifahrersitz geschickt wurde. Ich antworte auf deutsch, wie es sich gehört. Einfach reden. Von hinten sagt die neue Zimmernachbarin: Du, ich glaube, der versteht dich nicht.
Weiter geht’s über Stock und Stein mit deutsch-bulgarischem Wald-und-Wiesen-Sprach-Cocktail. Doch nun will der Taxifahrer wirklich, dass ich etwas verstehe. Er pflückt einen Zettel und einen Kugelschreiber irgendwo hervor und beginnt eine Zeichnung anzufertigen. Das erfordert einiges Geschick und auch Kompromissbereitschaft, was die Konzentration auf die holprige Straße und die Qualität der Zeichnung angeht. O Gott, während des Fahrens!, kommt es von hinten. Sehr eindringlich deutet der Fahrer mit runden, schwitzigen Fingern auf seine Zeichnung. Er ist ein lebhafter Mann von runder, kräftiger Statur. Sein helles Gesicht ist leicht fleckig und er scheint schnell zu schwitzen. Ich sehe mir die Zeichnung an, sofort setzt meine Imagination ein: ein Teddy mit Sommersprossen? Eine Landkarte? Ein fliegender Lollie über dem Kopf des Teddys, der aber auch eine Landschaft sein könnte? Darüber steht: Ata, das ist der Name des Schwimmbad-Hotels. Also, was will er uns sagen? Ich nehme die Zeichnung und halte sie nach hinten, damit Phantasie, kollektive Kombinationsfähigkeit und Interpretation uns einer gemeinsamen Lösung entgegenführen mögen. Unser Taxifahrer engagiert sich weiter in wiederholten Erklärungsversuchen. Wir haben keinen Zweifel, dass er uns irgendwo hinfahren will. Dadurch aber kommen Zweifel anderer Art auf, nämlich an seiner Seriosität. Vielleicht will er uns etwas verkaufen, um seinen Deal aufzubessern. Schließlich haben unsere bulgarischen Unterhändler dafür gesorgt, dass wir keinen Touristenpreis zahlen, sondern nur den wirklich billigen, regulären Taxipreis. Wir kreisen weiter um Teddy, Lolly, Landkarte undsoweiter und kommen zu keinem Ergebnis. Der Taxifahrer gibt schwitzend auf.
Wir erreichen das Hotel. Er begleitet uns zur Rezeption. Die Zeichnung hat er dabei. Legt sie der freundlichen, englisch sprechenden Dame am Empfang auf die glänzend polierte Theke. Mit erhobenen Armen und lebhaftem Ausdruck erzählt er ihr alles, was er uns wieder und wieder verständlich machen wollte. Dann seufzt er und stützt sich seitlich auf den Empfang. So kann er der Dame zuhören und uns dabei betrachten, die wir nun endlich seine Nachricht erhalten. Die Dame lächelt und sagt: He wants to tell you there are really nice strawberries in a shop, where you can do your shopping. He wants to know if you would like to buy strawberries.
Wir drücken unsere Zustimmung aus und bedanken uns für diesen Vorschlag.
Auf dem Rückweg kaufen wir die wunderbaren Erdbeeren und Kirschen dazu und naschen gemeinsam davon. Der Taxifahrer ist zufrieden, und wieder geht die bulgarisch-deutsche Unterhaltung voran, während die grüne Landschaft vorbeizieht und uns der Fahrtwind um die Ohren weht. Gerne rankt sich ein solches Gespräch um Wörter, die beide kennen, Rakija zum Beispiel. Und nun hält der Taxifahrer ganz unvermittelt an, steigt aus und geht ins Gebüsch am Straßenrand. Was, der pinkelt jetzt mitten auf der Fahrt?, kommt es von hinten. Doch der Fahrer kommt zurück mit einer weißen Akazie, aus der man wohl Rakija machen kann. Aber, und das verstehe ich jetzt sofort, man kann sie auch essen. Er macht es vor und reicht mir dann mit seiner uns nun schon vertrauten Leidenschaft die Pflanze. Gehorsam zupfe ich eine Blüte ab und esse sie. Süßherb, schmackhaft, gut. Ich nicke und esse. Wir fahren weiter, zurück ins Dorf Bela Rechka, und wir zahlen nur den regulären Fahrpreis. Aber unser Fahrer gibt mir seine Visitenkarte und ich bin sicher, dass wir kein besseres Taxi rufen können, wenn wir wieder ins Nachbardorf wollen.
Frau Holle
Während ich in Stob an der Bushaltestelle stehe, betrachte ich das Storchennest auf dem Dach eines der vielen verfallenen Häuser.
Nun bekomme ich Gesellschaft, eine alte Frau kommt und setzt sich auf die Bank. Da sie sofort beginnt, mit mir zu sprechen, setze ich mich neben sie und lasse mich darauf ein. Ich habe schon etwas Übung. Mal etwas sagen, mal nicken, mal auch nur murmeln, so bleibt das Gespräch lebendig. Für mich aber ist es eine Einladung, einem Menschen ins Gesicht zu schauen.
Unbekannten Menschen darf man nicht einfach in die Augen schauen, sie betrachten, ihre Gesichter studieren, auf ihren Furchen und Falten mit den Augen hin und herfahren. Sich eine Lebensgeschichte erdenken, Fragmente, Episoden. Gefühle aufsteigen lassen wie weiße Wölkchen, die einen Berggipfel umgeben. Das wäre unhöflich, unanständig, aufdringlich. Nein, dafür braucht man eine Genehmigung. Mit dieser aber gehe ich nun ungehemmt spazieren im gegerbten, zerfurchten, zahnlosen Gesicht des Mütterchens mit Kopftuch und dunkler Kleidung und einer etwas schrillen Stimme. Ihre Augen leuchten klar und hell wie Blumen am Wegesrand. Ich biete ihr einen Keks an, den sie auch annimmt. Auch sie möchte mir etwas geben. Aus der Stofftasche mit der Aufschrift “Wimbeldon Town” kramt sie eine blauweiß gestreifte Plastiktüte hervor, greift hinein und reicht mir dann einen Strauß Holunderblüten. Weiß und duftend, so wie jene, die überall um uns herum wachsen und blühen. Zuhause in meinem Hotelzimmer stelle ich das Geschenk in einen Becher neben mein Bett.
Der alte Mann und die Arbeit
Die meisten Menschen, denen ich in diesem Land begegne, sind freundlich und hilfsbereit. Sie reden mit mir, sie laden mich ein zu einem ganz unaufdringlichen Kontakt, verbindlich und flüchtig zugleich. In Rila steigt der Busfahrer mit mir aus, zeigt mir Ort und Uhrzeit, wo der Bus am nächsten Morgen zum Rila Kloster abfährt. Einfach so.
Also stehe ich am nächsten Morgen kurz vor sieben Uhr an der Bushaltestelle, einen Kaffee in der Hand, ein paar Kekse in der Tasche.
Der alte Mann auf der Bank hat ein Lachen auf seinem sonnengbräunten Gesicht. Er spricht mit mir, ich biete ihm einen Keks an. Er nimmt ihn, seine hellen Augen leuchten zufrieden aus schwarzer Umrahmung. Er wartet auf den Bus, der ihn in die Stadt bringt. Dort hat er Arbeit. Er zeigt mir sein Auftragsbuch. Mit dicken, blauen Kugelschreiberstrichen hat er einen Kalender in eine Kladde hineingemalt. Der Kalender umfasst alle Tage, an denen er Arbeit hat, keinen Tag mehr, keinen weniger. Hier sind wir, am 28. Mai. Der Auftrag begann etwa eine Woche zuvor und reicht noch bis zum letzten Tag des Monats. Jeden Tag von morgens bis nachmittags, die Uhrzeiten sind mit ebenfalls dicken Linien und unterstrichen in die Tage eingetragen, ist er an der Kunstschule der nächsten großen Stadt beschäftigt. Mit seinen ten percent English und ein wenig Körpersprache erzählt er mir, dass er als Modell arbeitet. Kopf, Hals, Statur. Ich kann ihn mir vorstellen, wie er zufrieden die Blicke der jungen Studentinnen auf sich spürt, die ihn mit ungeteilter Aufmerksamkeit anschauen, alles von ihm wissen wollen, was seine äußere Erscheinung mitteilt. Ob sie sein Lächeln, sein Strahlen einfangen können mit Zeichenkohle und Graphit?
Ich jedenfalls zücke spontan Notizheft und Bleistift und zeichne ein Portrait von ihm, bis mein Bus kommt.
Der Tourismus vertreibt den heiligen Geist und ein grüner Besen eine ungehorsame Touristin
Im ersten Bus zum Rila Kloster bin ich die einzige Touristin. Die Menschen im Bus sprechen nicht miteinander. Sie fahren zur Arbeit. Wir steigen gemeinsam aus, betreten das Kloster mitten im dichten Wald am Berg. Wie eine Umarmung umfassen hohe, weiß getünchte Mauern einen Innenhof. Während meine Mitreisenden zielstrebig auf Türen zugehen und dahinter verschwinden, bleibe ich erst einmal stehen und erhebe mein Gesicht. Gerade ergießt sich das Sonnenlicht des neuen Tags in diesen Innenhof, über die großen, runden Pflastersteine, die weißen Mauern, die Ornamente und Fresken. Die Pflastersteine leuchten matt, das Weiß der Klostermauern strahlt mystisch mit dem Schnee der umliegenden Berggipfel. Das Licht kommt aus einem makellos blauen Himmel. Ich drehe mich um die eigene Achse. Meine Augen, meine Schritte suchen einen Weg, langsam, betört, benommen, ergriffen. Ich sehe Brunnen mit Schöpfkellen daran und Münzen darin, ich höre sprudelndes, gurgelndes und plätscherndes Wasser und über uns die Vögel. Eine hohe Tanne strebt mit den Mauern empor, ein üppiger Flieder blüht mit den Farben der Fresken an der Klosterkirche. Dann geht ein Krachen los, Schüsse fallen, dazu verzerrte, apokalyptische Vogelstimmen. Ein plärrendes Chaos aus Lautsprechern kommt über uns herab wie verstimmte Fanfaren zum jüngsten Gericht. Diese ungeheuerliche Zerstörung der Klosteratmosphäre hört irgendwann abrupt auf, doch dann schreien die echten Vögel und stieben davon.
Was geht hier vor? Der Terror wiederholt sich im Minutentakt. Unvorstellbar, dass man hier freiwillig so eine Entscheidung getroffen haben soll. Ist das, bitte, der Preis für Klosterdächer und Balkons ohne Vogelkot?
Dennoch ist es eine intime Stunde. Klosterbrüder, Kinder, alte Frauen, sie sprechen miteinander, begegnen sich, berühren und küssen die Bilder der Heiligen. Die Klosterbrüder zünden Kerzen an, bereiten sich auf den Tag vor. Ein matter Glanz schwebt auf ihren schwarzen Gewändern. Das Tageslicht strömt durch die Fenster und durch den goldenen, runden Kranz des gewaltigen Leuchters, der aus der Kuppel herabhängt.
Ich verlasse das Kloster und gehe in den Wald, folge den Bächen und Wegen und kehre erst am späten Mittag zurück. Nun hat sich hier alles verwandelt. Naiv und naturverzaubert hatte ich nicht mit einer Touristenüberschwemmung heute gerechnet. Doch da sind sie alle, die mit Selfiesticks bewaffneten Massen und Mengen aus aller Welt. Und nun erfahre ich, wie sehr dieser Ort verdorben wurde.
Ich will Postkarten kaufen, gehe mit einem Stapel Karten zur Kasse des klösterlichen Souvenirshops, frage nach Briefmarken. Ich brauche aber nur Briefmarken für einen Teil der Postkarten und eine Briefmarke für einen Brief nach England. Der Verkäufer versteht mich nicht, aber er holt seinen Taschenrechner und zeigt mir eine Zahl darauf, die mit absoluter Sicherheit um ein Vielfaches zu hoch ist für Karten und einige Briefmarken. Da es im Hof auch eine Post gibt, will ich auf die Briefmarken verzichten und nur die Karten kaufen. Doch der Verkäufer beharrt auf der Zahl auf dem Display des Taschenrechners. Wütend nimmt er den Stapel Postkarten und knallt ihn mehrfach vor mir auf den Ladentisch, so lange, bis ich mich schließlich umdrehe und hinausgehe.
Darauf gehe ich etwas essen. Natürlich ist hier alles teurer als im Dorf. Ich habe das Essen bezahlt und trinke nun doch noch einen Kaffee hinterher. Er kostet vier Mal so viel wie im Dorf. In Ordnung. Doch dann verlangt der Kellner noch mehr. Ich zeige auf den Preis in der Speisekarte. Darauf erhebt er eine Art Klagegesang und beschimpft mich. Schließlich knallt er mir das Rückgeld hin. Grußlos verlasse ich das Restaurant.
Zum Schluss gehe ich noch einmal in die Klosterkirche und werde Zeugin, wie eine Angestellte eine Touristin hinaustreibt, die gegen das ausdrückliche und unübersehbare Fotografierverbot in der Kirche verstößt. Mit einem grünen Plastikbesen geht sie zischend auf die Frau los, schlägt nach ihr. Ob nach diesem Kehraus der heilige Geist doch wieder hier einkehren mag?
Der Freund des Poeten
Im Bus von Rila nach Sofia zeigt ein Mann seiner Sitznachbarin ein Buch. Er hat feine Gesichtszüge, eine weiche, leise, fast flüsternde und dabei etwas heisere Stimme. Sein Haar ist hellgrau über schwarz, er mag so um die 60 sein. Seite für Seite zeigt er seiner Mitreisenden das Buch, blättert langsam und bedächtig um, streicht über das Papier, erzählt dabei ohne abzubrechen. Dieses Buch muss etwas ganz Besonderes sein. Von meinem Sitzplatz aus, ganz hinten im Bus, kann ich erkennen, dass es ein großes Buch ist. Ich höre die Stimme des Mannes, die wie ein zarter Regen unablässig hinabrieselt über das Buch und seine Aura zum Blühen bringt.
Als wir in Sofia ankommen, stelle ich fest, dass die Endstation dieses Busses nicht der Busbahnhof ist, von dem aus ich eine Wegbeschreibung zu unserem verabredeten Treffpunkt habe. Über mein Handy ist gerade niemand zu erreichen. Also brauche ich Hilfe. Ich muss nicht lange überlegen, wen ich frage. Ich frage den Mann mit dem Buch, do you speak English? - Only a little bit. Das reicht. Er nimmt mich mit zur Straßenbahn, läßt sich Geld geben und kauft meine Karte. Er findet einen Platz für mich, stempelt die Fahrkarte ab und stellt sich so vor mich, dass ich und mein Rucksack gut stehen. Wir unterhalten uns ein bißchen. Er hat ein freundliches Lächeln, das zu ihm passt wie seine Stimme und das graue Haar. Dann holt er das Buch aus seiner Tasche, mitten im Gedränge der Straßenbahn und gibt es mir. This was my friend. He was a poet, erzählt er mir. Seite für Seite blättere ich und er erzählt. Es ist ein großes, liebevoll gestaltetes Buch, das die Lebensgeschichte seines Freundes enthält mit Familienfotos, Dokumenten, Handschriften und Gedichten. Das Buch ist ganz neu, er und seine Freunde haben es zu Ehren des Poeten herausgegeben nach dessen Tod. Nur ganz kleine Ecken zeugen davon, dass der Freund es schon oft in den Händen hielt und Seite für Seite zeigte.
Nun muss er aussteigen. Eilig nimmt er mir das Buch aus der Hand, verabschiedet sich und verläßt die Straßenbahn. Im Hinausgehen erklärt er mir noch einmal, in wievielen Minuten ich etwa aussteigen muss.
Reise nach Bulgarien, Mai 2019, zum GOAT MILK FESTIVAL in Bela Rechka und zum Rila Kloster.
Siehe auch Video Poems im Post vom Juli 2019 und lyrik.
Menschen mit roten Koffern rattern
durch Seifenstraßen.
Auf ihren Hälsen tragen sie Fruchtköpfe in Zigarettenluft,
Birnen, Äpfel, Weintrauben, Feigen,
reif, unreif oder mit Runzeln zum Vergehen geneigt,
nicken, wackeln oder stehen sie aufrecht und steif auf den Hälsen.
Die Cigales halten den Atem an bis zum Sommer.
Kleine Celli hängen an ihren Flügeln, sie spielen unterirdisch.
In diesem Land glitzert die Sprache der Menschen in schnellen Bögen.
im Flughafen-Hotel ihrer Wege über Geschirr und Schalen mit Knabbereien.
Der Blick aus dem sechsten Stock geht über Landschaften von Parkplätzen
mit Kolonien blecherner Küstentiere, über billigere und teurere Flughafen-Hotels mit
Plastikflamingos am Entrée und
das Meer.
Das Bett hält verschwitzten Schlaf und schwere Träume bereit, die sich
aus zu weichen Matratzen schütteln. Das Wasser in der Dusche wechselt die Temperatur
von kalt bis heiß und garantiert das Aufwachen am Morgen des Abflugs.
Alles ist schäbig, doch der Blick im sechsten Stock ist blau,
in der Nacht funkeln bunte Lichter, das Meer säumend.
Keine Mosquitos in dieser Jahreszeit, das Fenster steht offen.
Freundlich das braunhäutige Personal; über allem schwebt blauweiße Heiterkeit
wie das feuchte Wetter.
Hier ist die Kälte nicht zuhause und ich träume von einem Winterjob,
leichte Arbeit: einen Garten pflegen, Esel striegeln, mit Hunden spazieren gehen,
Räume mit Teppichen durchlüften und kostbare Vasen abstauben, dann am
Nachmittag, après-midi, nach einem leichten Rosé zum déjeuner, schreibe und zeichne ich das kleine, heitere Leben auf und liebkose den warmen Kern der Schwermut darin.
Träume und Einsamkeit, Freude und Fröhlichkeit reiben und umschlingen sich, nehmen ihre Hände.
Die unterirdische Musik der Cigales wird an die Oberfläche dringen, wenn ich gehe, um
wiederzukehren im nächsten Winter. Mit meinem beleidigten Genie, einer alter Jungfer, dankbar für jeden Trost und jede Schmeichelei und immer noch eifersüchtig die Bescheidenheit verschmähend.
Die Dame am Check-in trägt einen dezenten aber deutlichen Liebesbiss, perfekt platziert
über ihrem Halstuch in den Farben und mit dem Emblem der Fluggesellschaft.
Das Leben lächelt über die Anzeigetafeln mit verspäteten Flügen hinweg.
Im Duty Free probiere ich Cedern-Parfum und kaufe Verveine-Seife
im hübschen Blechkästchen.
Es geht in das Zuhause auf der anderen Seite des Flugs
vom leichten in den schweren Himmel.
Eine Weile hier, dann dort, ein Abschied, ein Kuss in die Luft.
Der Morgen ist ein Fenster zu anderen Morgen. Weit entfernt und nah wie eine Gebirgskette bei Föhn leuchten die Morgen der Jugend durch die Fenster hinein und erhellen mein Gesicht.
Ein heller Streifen am Horizont nach einer Nacht an der Autobahn bei einer Tramptour durch Süd- oder Ost-Europa. Ein Morgen, an dem ich von Kälte und Feuchtigkeit überzogen erwache mitten im Geschrei von Vögeln, die sich zum ersten Rosa der Morgendämmerung in den Büschen des Nilufers am Rande der Wüste sammeln. Ich werde wieder einschlafen und dann, da ich immer zu lange schlafe, durchgeschwitzt und mit einer schwarzen Hand vor den Augen unter der erbarmungslosen Wüstensonne erwachen.
Ein Sonnenstrahl dringt durchs Gebüsch, dort, wo ich mit einem anderen Tramper in einem Wäldchen vor einem Südafrikanischen Casino geschlafen habe. In diesem kleinen Land reisten wir einige Tage lang per Anhalter und sahen keine einzige Uhr, welche die Zeit anzeigte, so erinnere ich mich. Ein Fächer von Morgen entfaltet sich vor meinem inneren Auge. Morgen auf Waldböden bei Sturm und Regen, geschützt von Blattwerk und Ästen, Vögel und Wind riefen aus den Träumen und lockten in den angebrochenen Tag. Morgen Irgendwo im Nirgendwo in Europa, Asien, Afrika und Südamerika, in kleinen Hütten, an Stränden, in Höhlen. Morgen auf dem Bodensee, über den ich viele Jahre zur Schule pendelte, mich der behäbigen Fähre anvertraute und für diese verläßliche Zeiteinheit der Überfahrt beruhigt und fern meiner vielen Jugend-Sorgen und Nöte in Betrachtung der Wolken, der Berge, des Wassers bei jedem Wetter versank. Eine Zigarette an Deck.
Heute tragen die Wolken in der Morgendämmerung des fahlen Novembertages einen Strahlenkranz wie eine Schuluniform.
Ich gehe zum Arzt. Stehe mit meinem Gedichtband vor der Tür und lese im kühlen Licht der angrenzenden Eingangshalle der örtlichen Sparkasse. Ein Auto parkt neben meinem. Eine Frau steigt aus und kommt auf mich zu. Die müde Sprechstundenhilfe schließt die Tür auf. Sie hält den Türgriff, damit ich ihr folgen kann. Ohne Worte gehen wir die Treppe hoch. Sie öffnet noch eine Tür, hält sie mir auf, wir betreten die Arztpraxis. Ich nehme im Wartezimmer Platz, höre die Handgriffe aus dem Empfangsraum. Den Akkord des hochfahrenden Computers, das Rücken und Legen von Dingen, Möbel und Bürobedarf, Papier in seinen Geräuschvariationen. Ein Rezept ist ein flugfähiges Blatt, dem Blatt am Baum verwandt, mit Sehnsucht nach Stamm und Familie, geheimnisvoll raschelnd, wenn es aufgehoben oder hingelegt wird. Ein Papierstapel stößt dumpf auf wie eine Fähre an die Quaimauer. Über allem hängt damoklesschwertschwer die Erwartung des einsetzenden Telefonklingelns. Ratsch, im Wartezimmer wird der Rolladen hochgezogen. Die Sprechstundenhilfe hat die Augen immer noch halb geschlossen. Ich bin die erste Patientin. Mittlerweile hat sich ein Mann zu mir gesellt. Ich bin gut gestimmt, geduldig, gleich bin ich dran. Suche nach ein paar freundlichen Worten, als ich alleine mit der Sprechstundenhilfe im Labor bin. Unheimliche Ruhe aus dem Empfangsraum. Es ist mir, als höre ich das Geläute des Telefons in der Stille beben. Aus dem Teppich steigt es empor und an der Decke sitzt eine unsichtbare Spinne, die bald die Praxis einweben wird mit ihrem diiim-dim-dim-di-di-dim.
Mein Blut ist abgezapft, noch vor acht Uhr verlasse ich die Arztpraxis und gehe im gegenüberliegenden Edeka einkaufen. Ich scheine die einzige Kundin zu sein. Zwischen den Regalen stehen Kisten, deren Inhalt eingeräumt werden muss. Käse, Wurst, Tee, Kaffee, Schokolade, Puddingpulver, Gurke, Seife, Götterspeise, Milch, Honig, Senf und Klopapier, was auch immer wir konsumieren in dieser Gegend von Billigmarken bis zu Demeterprodukten. Ich habe die Idee Rollschuh zu laufen. Die Angestellten räumen die Regale ein, während ich im Slalom durch die Reihen schwinge, fröhlich die Telefonmelodie der Arztpraxis pfeifend. Ich stehe alleine an der Kasse. Die Kassiererin wartet nur auf mich. Wir lächeln uns an und wünschen einen schönen Tag. Das klingt jetzt noch frisch wie die dampfenden Brötchen hinter der Backwaren-Theke.
Vor der Apothekentür hippel ich herum und lächele durch die Glastür. Warum soll ich hier noch geschlagene zwei Minuten warten, bis es acht Uhr ist? Die Tür öffnet um Punkt acht.
Ich sollte jeden Morgen so früh losziehen. Die Wolken in Strahlenuniform leuchten mir den Weg zu Fenstern meines Lebens. Am Himmel lächelt ein flockiges Rosa aus dem Novembergrau hervor.
27. November 2018
Der Maler
Er nahm den Pinsel in die Hand und ließ seine Finger über die etwas steife Spitze gleiten. Tauchte sie in ein Wasserglas, meinte es an seinen Fingern zu spüren, wie das Wasser kühl zwischen die Haare drang und die an ihm haftenden Farbreste löste. Den Pigmenten hatte er Kreide und etwas Gummi Arabicum beigemischt. Das Rosa duftete gleich einer süßherben Speise. Rosa, eine Farbe, die er zuvor als mädchenhaft verachtet hatte, zog ihn nun an, ebenso wie das leuchtende Türkis und das zarte Hellblau.
Doch heute mischte er Grau, denn das war die Farbe des Himmels an diesem Morgen über Paris. Die Sonne ging hinter dem Grau auf, hinter der Stadt, die sich unter ihm hinkauerte, in klammer Kühle verharrte, Haus an Haus, das Gewimmel kleiner werdend zum Horizont hin und sich dort in Grau lösend wie in schmutzigem Wasser.
Als ob sich das Leben nicht herauswagen wollte aus den Häusern, blieb die Stadt leer, Menschen waren kaum zu erkennen. Dennoch stieg ein Dröhnen aus dem Meer kleiner und größer werdender Gebäude zu ihm zum Trocadéro empor, zusammen mit Rauch in weiß-grauen Schwaden, aufsteigend von den wie mahnende Zeigefinger hervorstehenden Schornsteinen.
Das Grau umhüllte und benebelte ihn. Es war ihm nicht zu entkommen. Es wollte sich nicht erheben, nicht weichen, um der Sonne etwas Raum zu geben. Nur ein fahler Schein blieb vom Versprechen einer kleinen Wärme.
Er befühlte die Pinselspitze, das weiche Haar, wie die Spitzen von Sofies Zöpfen, bevor sie ihr Haar löste. Sofie, das écureuil, das Eichhörnchen, zierlich, klein und flink.
Seine Hand fühlte sich starr an, doch er musste den Himmel auf das Papier vor sich auf der Staffelei bringen. Er musste das Blatt erlösen, die Farbe befreien, sich selbst Atem verschaffen, indem er das Grau bannte. Die Finger tasteten das glatte Holz des Pinsels. Sofies Leib. Weiß, und nun eine Wolke schwarzer Vögel, die in seinen Gedanken kreiste. Der Morgen dröhnte, Novemberkälte umgab ihn fester als sein alter Mantel.
Er malte Grau. Grau zu Grau. Mehr Grau, mehr Wasser, mehr Farbe. Schwarz und Weiß strudelten durcheinander, vermischten sich auf dem Blatt, das unwillig die Schichten neuer Farbe ertrug. Ein undurchsichtiger, feuchter Himmel legte sich auf das schwere Papier. Es würde auch zuhause in seiner kalten Kammer noch lange nicht trocknen. Schlieren bildeten sich, vom Pinselhaar besänftigt. Sofies bräunlichrotes Haar schwebte durch seine Sinne. Fand sich nun in der Gestalt eines einsamen Vogels, der um das dunkle Gerüst des Turmes kreiste. Er war sich sicher, dass Sofie die Gestalt eines Vogel angenommen hatte.
Ein Schwarm schwarzer Krähen zerstörte die Einsamkeit des Vogels, wild schreiend zerschnitt der flatternde Pulk die Luft zwischen ihm und der Stadt. Wütend ergriff er den Pinsel und tunkte ihn ins Schwarz, zeichnete hastig dicke Striche ins Grau, quer in den Himmel. Dann wusch er den Pinsel, das Wasser verfärbte sich. Wie von selbst glitten seine Finger zum Hellblau, dann zum Blatt, dann wieder zum Wasserglas, dann zum Rosa. Er hielt inne. Ließ seinen Blick zum Turm und über die Weite der Stadt schweifen, folgte der Linie der Seine, die ein wenig Helligkeit abgab. Dann verfing sich sein Blick im Geäst eines kahlen Baumes, der ihm auf einmal seltsam nah erschien. Dahinter ließ der Himmel ein zartes Rosa erscheinen. Sofies Mund, Sofies Augen sahen ihn an aus diesem Himmel, der begonnen hatte zu fließen, zu strömen. Er ließ sich ergreifen, schüttete das Wasserglas neben seinen Mal-Schemel aus, füllte Wasser nach aus seiner Trinkflasche, reinigte den Pinsel, goss das Glas wieder aus und füllte wieder nach, bis das Wasser klar blieb. Dann tauchte er ins Rosa und zeichnete einen großen Kreis in den Himmel.
Drei Mini-Stories,
Die Katze holt den Vogel
Unser Kater hat wieder einen Vogel erwischt. Auch noch einen jungen. Auch noch während wir daneben sitzen, am Gartentisch, wie sooft mit dem kleinen, schwarzen Gesellschafter zu unseren Füßen. Aufgestellte Zipfelohren und hinten ein friedlich ausgelegter Schwanz, der wie aus seiner Mitte herausfließt und den Frieden der frühen Abendstunden unterstreicht gleich einem deutlichen, aber unaufdringlichen Pinselstrich mit schwarzer, chinesischer Tusche gemalt.
Dann springt er aufeinmal auf, mit geweiteten Augen, noch kreisrunder als sonst, außen gelb und innen ein schwarzer, chinesischer Tuscheklecks. Zack, hat er den jungen Vogel im Maul. Federn fügen sich in die Symmetrie der Schnurrhaare. Ach, dieser elende Jagdtrieb, muss er sich denn unbedingt auch auf Vögel erstrecken? Reichen denn die Mäuse nicht? Dazu das tägliche Futter: Lachs, Forelle, Lamm, Huhn, Truthahn, Pute als Herzen, Leber, Muß, Pastete, Soufflee, mit Gemüse oder ohne; alles, alles, was einen Katzenhunger stillt und ihn den grausamen Jagdtrieb vergessen lassen könnte. Doch wir wissen, wie dekadent und degeneriert dieses Haustierhalten und diese Gedanken sind. Tier ist Tier und Trieb ist Trieb.
Die Lider des kleinen Vogels im Maul unseres Katers klappen auf und zu; der Schnabel klappt auf und zu. Ich packe die Katze am Genick. Sie lässt erschrocken den Vogel fallen, und ich scheuche sie fort. Nehme den Vogel in meine Hand, er ist nicht einmal handtellergroß. Vielleicht ist er noch zu retten, vielleicht erholt er sich. Kein Blut, keine Verletzungen sind zu sehen.
Mensch ist Mensch, widersprüchlich grausam und gefühlsduselig, roh und empfindsam, eine unberechenbare Laune der Natur. Der Vogel atmet. Er hat Federn. Schwarz glänzen die Augen unter seinen ledrig grauen Lidern hervor. Schwarze Flusssteine voller Geheimnisse. Der Vogel, ein Bote des Himmels und der Luft. Federn: zarter Flaum, anrührend, fein, ins Ephemere deutend.
Dazu ist das Wesen in meiner Hand noch ein Junges, schutzbedürftig mit weichen Krallen, die niemandem etwas zuleide tun könnten. Das Vogelkind liegt in meiner Hand, kommt zur Ruhe, atmet, schaut, liegt, atmet. Und dann tut es einen großen, viel zu großen Atmezug für einen so kleinen Leib, spreizt die Flügel und sirbt.
Bounty und das Reh
Wir reiten den Waldweg entlang, die letzte Galoppstrecke. Ich vorne auf Bounty, meinem Quarter-Pony, hinter mir Anne auf der Brabanter-Stute Bijou. Aufeinmal ruft Anne: “Da ist ein Reh!”. Nur einen Augenblick später kreuzt das Reh den Weg vor uns.
Anne hatte es gesehen, wie es den Berg herunter lief, schräg auf unseren Weg zu. Sie dachte, ich sehe es auch. Doch ich habe es nicht gesehen. Und Bounty? Und das Reh? Haben sie sich gerochen, erkannt und stillschweigend geeinigt, wer Vorfahrt hat? Haben sie einen Wettlauf verabredet und es es auf einen Zusammenprall ankommen lassen? War es reiner Zufall? Oder sind die Wege und Zeitpunkte, an denen Reh und Pony kreuzen ein Glücksspiel der Waldgötter? Es mag sie ja wohl noch geben.
In Hamburg am Bahnhof fragt mich ein junger Mann: “Können Sie mir helfen?”
Ich bleibe stehen. “Ja?” Er zeigt mir eine arabische E-Mail auf seinem Handy und ein Papier in seiner Hand. “Ich kann das nicht schreiben”, sagt der junge Araber und zeigt auf ein Wort auf dem Papier. “Können Sie für mich schreiben, hier, bitte?”, und er hält mir sein Handy hin. “Ja, gut.” Ich lese auf dem Papier das Wort: Abschiebung. “Nur dieses Wort”, betont der junge Mann. Dieses Wort kriegt er nicht in sein Handy, in die E-Mail an die Person, die es betrifft, oder die davon in Kenntnis gesetzt werden soll. Abschiebung. Ein Wort, bestehend aus elf Buchstaben des lateinischen Alphabets, mit großem A beginnend und endend mit kleinem g. Der Mann hat es versucht, doch sein Handy will das Wort nicht von selbst erkennen, und für ihn ist die Reihenfolge dieser elf Buchstaben einfach nicht auf die kleine Tastatur übertragbar. Er hat sich das Wort schon handschriftlich auf einen extra Zettel geschrieben: Der Abschiebung.
Ich kann ohne weiteres helfen bei dieser Angelegenheit. Was ist denn schon dabei? Ich tippe das Wort Abschiebung in die E-Mail. Buchstabe für Buchstabe erscheint es auf dem Display. Auf deutsch. In lateinischer Schrift. Einfach so. Das Wort riecht nicht, schmeckt nicht, aber es klingt. Spricht eine Sprache, ist ein Zeichen, ein Urteil. Dieses Wort ist schicksalshaft. Es kann über Leben und Tod entscheiden. Da steht es wie ein Polizist an der Kreuzung eines Lebens. An allen elf Buchstaben klebt ein Gewicht. Sie fügen sich zusammen zu einem Klumpen Blei. Sie riechen, schmecken, klingen dissonant, sind widerlich und sperrig. Sie wollen meinen Finger abstoßen, der unbarmherzig tippt, die Reihgenfolge der elf Buchstaben festlegend. Mein Finger wird zum Erfüllungsgehilfen des bleiernen Polizisten, der wiederum auch nur ein Vollstrecker des Gesetzes ist. Nur?
Dieses Wort, das ich da eintippe, kann alles bedeuten, doch es bedeutet alleine nichts. Es braucht ein Ja oder ein Nein, um gut oder böse zu sein. Daumen hoch oder Daumen runter. Alleine aber ist es neutral. Machtlos. Wie etwa die Wörter “Folter”, “Tod”, “Hinrichtung”. Sie verbreiten zwar ihren Schrecken alleine durch den Klang, doch ist dieser nur Auslöser für Phantasien und Projektionen. Ohne Ja oder Nein sind die Wörter nichts als Könige ohne Reich und Untertanen, Raubtiere ohne Beute, in der Wüste herumstreifende, hungrige Löwen. Mörder ohne Opfer, die in dunklen Nächten gierig und getrieben durch leere Gassen streifen.
Ich aber bin unschuldig. Ich helfe. Habe Verantwortung übernommen für den Transfer von elf lateinischen Buchstaben von einem Blatt Papier, ausgestellt von einem Amt, in eine E-Mail via Handy. Aschiebung von Buchstaben hinein in ein weltweites Netz. Und wohin?
Zum Schluss belehre ich den jungen Mann noch freundlich: “Es heißt: die Abschiebung; der Artikel ist die, nicht der.” Der Mann nickt. Ich weiß nicht, ob er mich verstanden hat, aber das ist ja eine wichtige Sache. Zu so einem bedeutenden Wort muss man auch den richtigen Artikel kennen, das kommt gut an. Bei wem? Wozu? Was hilft’s? Der Mann drückt auf senden. Peng, fort und weg. Rein ins Netz! Es ist voller klebriger Fäden, in denen Spinnen sitzen, eine grandiose Menge, und auf Beute warten. Fliegen summen überall herum wie Spaceships im Worldwideweltall. Sie tragen Nachrichten wie Viren, und wo sie landen, gehen sie ins Netz. Immer wieder blinken Leuchtsignale auf in der Schwärze und Kälte des Weltalls, Zeichen, Wegweiser: “Krieg”, “Gesetz”, “Politik”, “Abschiebung”. Es ist ziehmlich unüberschaubar für einen Finger an einer Tastatur zu wissen, wohin das Wort geht. Rein ins All! Rein ins Netz! Finde Deinen Weg! Es saust und schwirrt und brummt fern von unseren Ohren und landet irgendwo, fern von unseren Augen.
“Danke”, sagt der junge Mann, “vielen Dank!”.
Kleine Betrachtungen
Knorrige Bäume lehnen sich über sonnenbesprühte Grachten. Eine Gingerkatze mit kurzem Fell und weißen Pfoten lagert auf einem Kneipentisch hinter dicken, eingefärbten Butzenscheiben. Der Wirt kommt und vermasselt das Foto, weil die Katze den Kopf dreht, die Tatzen über die Tischkante spreizt und dann vom Tisch springt.
Ich gehe weiter, finde weißglänzenden Salbei im kleinen Garten, der vom Kreuzgang des Doms begrenzt wird. Die barock angelegten Buchsbaumhecken führen in die Mitte des Gartens. Dort steht ein Brunnen mit der Bronzefigur eines lesenden Mönchs, umringt von kleinen, wasserspeienden Teufelchen zu seinen Füßen. Der Mönch hat die Beine überschlagen, die Spitze eines spitz zulaufenden Schuhs ragt unter dem Gewand hervor. Das aufgeschlagene Buch in seinem Schoß ist sehr groß. Bibel, Comic oder Pornographie? Die Teufelchen mögen es wissen. Sie haben Fledermausflügel, ihre Schwänze gleiten zwischen Teufelskrallen hervor und fallen über den Rand der Säule, auf welcher der junge Mönch mit seinen Wasserspeiern sitzt und möglicherweise etwas Teuflisches liest.
Wieder raus, weiter durch die Straßen und an den Grachten entlang. Schaufenster und Fenster, die selbst auf die Straße schauen mögen. Die Aufschrift Denk dieper und daneben ein Sokrates-Zitat, aus milchweißer Folie herausgestanzt. Ein Fenster weiter informiert eine religiöse Gesellschaft über okulte Heilungskunde, wenn ich das richtig verstehe. Neben einer klobigen, aus Holz geschnitzten Frauenfigur mit einem runden, traurig wirkenden Gesicht: kleiner Mund, eingefallene Wangen über hochstehenden Wangenknochen und dicke, zu den Seiten herabsinkenden Augenbrauen, grünes Kleid und roter Umhang, den sie um den Kopf, den Hals und die Arme gewickelt hat, neben ihr also hängt ein großer, bemalter Fisch aus Pappmaché. Schröpfgläser, Mörser, Zangen und allerlei eingetrocknete Substanzen liegen zu Füßen der Figur. Zwischen den Dingen in der Auslage steht ein gerahmtes Bild von einer Prozession mit Mönchen in braunen Kutten, die eine Frauenfigur tragen. Maria Magdalena, so steht es da zu lesen.
Weiter die Gracht hinunter finde ich ausgestopfte Fledermäuse, kopfüber hängend, Ansammlungen kleiner Schädel von Nagetieren und den Plastikkopf eines Schwarzen mit ausgestreckter, rosa Zunge und der Aufschrift: SMILING SAM FROM ALABAMA/ THE SALTED PEANUT MAN. Der Preis klebt auf dem kahlen Kopf. Zwei schlacksige Wheeler-Dealer verlassen den Laden und schließen ab. Freakbrothers pervers. Ach ja, ab und zu weht Haschgeruch über das Kopfsteinpflaster und die Grachten. Angenehmer Beruhigungsdunst für eine insgesamt überspannte Gesellschaft. Was noch? Was gehört zu Holland wie das Hasch?
Fietse natürlich. Fietse-Heuschrecken, Fietse-Echsen, Fietse-Fledermäuse, Propeller-Fietse, Rumpel-, Gleit- und Rappel-Fietse.
Außerdem: Kunst und Kitsch in den Schaufenstern und an den Wänden der Räume dahinter. Von den feinsten Exponaten in Öl auf Leinwand oder Bronzeskulpturen bis hin zu hölzernen Tulpen in den Souvenirläden. In der Fine- Art-Galerie sitzt eine feine Frau am Computer hinter einem schwarzglänzenden Tisch. Ihre Fine- Art-Only-Aura strahlt durch die einbruchsichere Scheibe bis hin zu mir, die ich scheu und ehrfürchtig die riesenhafte Eule aus edlem Holz betrachte. Ihre mächtigen Flügel sind von elegantem Schwung, unpassend zueinander. Mit dem einen Flügel steht die Eule, mit dem anderen fliegt sie, so dass die Flügel einen rechten Winkel bilden. Das Gesicht der Galeristin ist in Wahrheit das der Eule, spitz und aggressiv. Die Eule trägt eine runde Maske aus indischem Sandelholz.Wie das duftet! Davor duftet verführerisch eine halb entblößte Mandarine in Öl auf Leinwand. Ihre Schale ist ein frivoles Kleid, das gleich den Schwänzen der wasserspeienden Teufelchen über die mit dickem, roten und godbesticktem Brokat verhüllte Kante des Tisches fällt, an der sie, die Mandarine, lasziv lagert, eingewickelt in ein weißes, luftiges Gespinst aus Mandarinenfäden. Der Hintergrund: schwarzglänzend wie der Tisch der blonden, hochgewachsenen Galeristin. Tausend wissende und lüsterne Teufelchen grinsen aus dem tiefen, hermetischen Schwarz der Ölfarbe.
Der knorrige Baum an der Gracht vorm Café trägt eine Lichterkette. Die kleinen Lichtpunkte fangen schon an zu glühen, obwohl es noch hell ist. Hunderte Teufelsaugen schweben kichernd über die Gracht, während ich meinen Kaffee genieße.
Alice
7 Episoden
Geschrieben 2013 und 14, überarbeitet, herausgegeben und illustriert von der Autorin im August 2017
1. Episode
Abend im Frühjahr
Wetterwechsel,
hat er zu Alice gesagt, sei nicht gut für ihr Gehirn.
Dieser Doktor Grau hat Theorien, die eigentlich niemand nachvollziehen kann; aber davon weiß Alice natürlich nichts.
Bei diesem wunderschönen Sonnenschein wandert sie im Garten herum. Sie sieht reizend aus, ihre zierliche Gestalt in nettem Kleidchen mit bunten Bändern verziert. Doch der Kopfschmerz fasst jeden Gedanken wie mit Zangen an und drängt ihn in die entlegensten Ecken ihres hübschen, lockenbedeckten Schädels.
Doktor Grau gab ihr Tabletten, die sie mit diesem blauen Wasser aus dem Brunnen im steinernen Vorgarten herunterspülte.
Allmählich geht das Kopfweh weg, aber auch die Gedanken verblassen, verschwinden.
Am Nachmittag kommt die Katze.
Verlorene Erinnerungen sind nicht verloren; irgendwo bleiben sie im Körper gespeichert.
Die Gedanken sind verwandelt. Labile Gestalten.
Alice ist beinahe schmerzfrei.
Die Katze streift um ihre Beine. Der Schnittlauch blüht, Iris, Erdbeeren, Klee. In diesem Frühjahr blüht alles auf einmal.
Primeln, Rosen, Astern.
Alice steht im Garten, schmerzlos, erinnerungslos, gedankenverloren. Sie möchte gerne wurzeln, in die Erde hinein.
Ihre Füßchen stehen nebeneinander wie Geschwister. Sie spreizt die Zehen und gräbt sie in den Boden.
Eins, zwei, drei vier, fünf, dringen sie nacheinander ein.
Eins, zwei, drei vier, fünf, dringen sie nochmals ein. Dann sinken die Fußsohlen, diese überaus empfindlichen Körperteile, in den Grund. Langsam, wie zwei Kähne, die sich allmählich durch ein Leck mit Wasser füllen.
Die schwarze Katze schaut Alice gelbäugig zu. Doktor Grau hat ihr Milch gegeben.
Sie leckt einen feinen Milchbart ab.
Alices Füße stecken bis zu den Fußgelenken in der kühlen, lehmigen Erde. Sie spürt kraftvolle Muskelkontraktionen an der empfindlichen Haut ihrer Fußsohlen. Erster Kontakt mit Regenwürmern. Berührung: glatt, gerillt und kräftig.
Alice wird tiefer gezogen. Sie spürt einen Sog. Ihre Fersen ähneln Wurzeln, Knollen, Pflanzenzwiebeln, wie sie nun unter der Oberfläche stecken, und aus ihnen wollen zwei Waden wachsen, zwei weiße Beinchen als Stiel einer Pflanze. Es treibt aus diesen Fersenknollen, zieht in Alices Sehnen, Waden, Knien, hinauf und hinunter.
Alices Nerven werden zum feinen Wurzelgeflecht.
Brennnesseln sind wie Zündschnüre, ziehen sich unberechenbar, lang und dünn durch das Erdreich. Kriegerinnen, Amazonen mit Giftpfeilen.
Alice findet das Gift der Brennnessel sehr belebend, es bekommt ihr. Vielleicht ist sie eine Amazone.
Löwenzahnwurzeln stecken wie Pfähle im Grund. Fest und glitschig. Sie weisen in die Tiefe. Tiefenmesser. Erdwächter.
Alice biegt ihren Körper zurück, hält ihr Gesicht dem blauen, von schneeweißen, strahlenden Wolken bevölkerten Himmel entgegen.
Ihre Augen sind voller Wasser, aus einem Mundwinkel rinnt ein dünner, sämiger Speichelfaden. Aus ihren Wangen weicht das Blut. Sie spreizt ihre Finger, dreht die Handinnenflächen nach oben. Eins, zwei, drei vier, fünf, nimmt die Luft die Fingerchen. Eins, zwei, drei vier, fünf, nimmt sie nochmals die Fingerchen und die ganze Hand, und dann die ganze andere Hand.
Nun zieht die Erde kräftiger an Alice. Sie nimmt ihre Waden.
Alice zittert vor Aufregung, Freude, Angst. Sie öffnet den Mund. Die gelbbraunen Locken hängen von ihrem Kopf wie wildes Gras; sie wachsen der Erde zu.
Die Katze gähnt. Sie öffnet ihr Katzenmaul mit den spitzen Zähnen. Die gelben Augen blinken wie Leuchtturmfeuer darüber hervor.
Alice kennt nicht jede Wurzel, jedes Tier. Nicht alle sind ihr angenehm.
Da Nacktschnecken und Spinnen. Dort Waldmeister, Minze, Holunder.
Alice sinkt.
Die Katze setzt sich auf den Boden und reckt ihren Hals in Katzenart. Sie schaut und stellt die Ohren auf. Ihre Schnurrbarthaare bewegen sich in einer leichten Brise.
Alice spürt sich fest gehalten, eingesogen. Die Erde steigt über ihre Knie, an ihren Schenkeln empor. Eine krümelige Masse. Ein starker Geruch geht von ihr aus.
Alice schließt die Augen. Der Kopfschmerz ist vergessen.
Doch sie ist einer Ohnmacht nahe.
Die Katze spreizt ihre Pfoten. Für einen kurzen Moment werden die Krallen sichtbar.
Ein taumeliges Gefühl erhebt sich in Alices Kopf. Möglicherweise von dort, wo Erinnerungen kauern.
Aus Alices Kehle dringen eigenartige Laute. Unbekannte Naturlaute.
Die Erde duftet. Sie steigt weiter an ihr empor. Berührt sie, wo sie noch nie so stark berührt wurde. So direkt. So dringlich.
Erstmals sieht die Katze sie an. Es ist ihr, als würden sich die Katzenaugen zu Schlitzen verengen, während ihre eigenen Augen sich wie von selbst weiten. Sie spürt, wie Flüssigkeit aus ihren Augen dringt. Milch fließt aus ihnen hervor und läuft wie ein Wasserlauf in ihren Mund, mitten in ihren schweren Atem hinein.
Die Katze schaut aufmerksam zu.
Alice steckt bis zur Hüfte in der Erde. Ihr Kleid ist glockenförmig um sie herum ausgebreitet, die Bänder liegen lose darauf. Sie sieht nun aus wie eine Blume auf der Wiese. Rittersporn, Pfingstrose, Pusteblume, Alice.
Schmetterlinge trudeln durch die Luft.
Alice legt die Hände auf die Erde. Sie atmet etwas ruhiger.
Aus ihren Augen strömt unentwegt Milch.
Die Katze leckt sich das Mäulchen.
Ein Schmetterling fliegt um Alices Hand. Der Wind berührt ihr Lockenhaar.
Es hatte so lange geregnet. Viele Wochen lang. Kein Wunder, dass Doktor Grau Alice immer neue Medikamente gab, um ihre Stimmung aufzuhellen.
Alice nahm sie gerne, denn nur dann durfte sie zu ihrem Brunnen im steinernen Vorgarten gehen und die Medikamente mit dem köstlichen, hellblauen Wasser daraus herunterspülen.
Der strahlend blaue Himmel heute ist eine Sensation.
Blank gewaschen wie Alices Gesicht.
Die Katze lässt sich vom Schmetterling ablenken. Ihre Ohren zucken.
Wie sie nun weiter in die Erde hineingezogen wird, beginnt Alice zu singen.
Die Laute dringen aus ihr hervor wie die Milch aus ihren Augen. Langsam muss sie die Arme heben, als ob die Mutter ihr das Kleidchen ausziehen wollte. Die Erde erreicht bald Brusthöhe.
Alice sieht auf einmal die Dunkelheit des Erdreichs vor sich. Wie von selbst singt sie lauter. Manchmal schnappt sie nach Luft. Es wird dunkel sein unter der Erde. Ganz sicher ist es dort dunkel. Dunkel wie die tiefste Nacht. Die Erde besteht aus tausend schwarzen Katzen mit Erdfell und Wurzelkrallen.
Alice zückt Pfeil und Bogen und spuckt Brennnesselgift auf den Pfeil. Sie will sich bewegen, drehen. Auf einem Erdpferd reiten. Einem Licht entgegen. Es muss doch Erdlichter geben! Unterirdische Höhlen mit Leuchtern, an denen Erdlichter brennen.
Der Lehm wird ihr zu aufdringlich um ihren Körper herum.
Zu dominant. Mit kühler Gewalt umschließt er ihre Brust, ihre Seiten, ihren Rücken. Sie ist gefangen in der Erde. Ihre Knochen stecken in ihrem Körper fest. Das Erdreich umgibt sie unausweichlich. Was, wenn es sie loslässt?
Alice denkt nicht mehr.
Die Katze legt sich hin. Dreht ihren Kopf zur Seite und bettet ihn auf den Pfoten. Will sie einschlafen, oder kann sie Alice so besser beobachten?
Wolken ziehen über Alices Kopf. Schafe, Drachen, Hyazinthen, Disteln, Menschenfresser, Felsen, Gänseblümchen.
Nun steckt Alice bis zum Hals in der Erde in Doktor Graus Garten.
Seine Theorien sind null und nichtig.
Alice weint Milch und singt. Ihr Gesang klingt wie der eines kleinen Vogels mit einem großen Hall. Er zieht in den Halbschlaf der Katze.
Es ist, als ob sich die Luft von der Erde erhebt. Alice muss in einer Ohnmacht sein, sonst würde sie schreien. Die Grasspitzen berühren ihre Achseln, die zusammen mit den Schultern gefressen werden. Die Erde muss sich anstrengen, das Mädchen nun ganz in ihren Schlund zu ziehen. Sie zieht, saugt, drückt. Es ist eng und unangenehm. Alices Kleid, das auf dem Gras um sie herum ausgebreitet liegt, ist in Milch getränkt. Ihr Gesicht ist schneeweiß.
Sie ist taub und schmerzfrei, erinnerungslos.
Doch dort, unter der Erde, beginnen Erinnerungen in ihrem Körper zu erwachen. Sie tragen Pfeil und Bogen und Löwenzähne. Sie haben wildes Fell und Erdkörper. Noch sind sie klumpig und klobig.
Die Katze schläft, während Alices Gesicht im Grund verschwindet. Das Kinn berührt die Erde. Der Mund füllt sich, die Zunge wird zu Lehm. Die Nasenspitze, die Nasenlöcher, der Nasenrücken verschwinden zusammen mit den Wangen und den Ohren. Augenhöhlen, Augenbrauen, Stirn und zuletzt die Haare, der Scheitel entweichen dem Blick der tanzenden Schmetterlinge, der Luft, der Wolkenaufsicht.
Der Wind muss nun auf Alices Locken verzichten.
Die Katze schläft tief.
Es blühen Klee, Rittersporn, Adonisröschen, Ginster.
Die Welt um Alice kippt unmerklich, als habe jemand einen Schalter umgelegt.
Das ist Alices Zauberei, unwissend legt sie den Schalter um.
Doktor Grau ahnt nicht, dass alle seine Tabletten nie wirkten.
Keine einzige hatte je Einfluss auf Alices Magie. Allein das blaue Wasser aus ihrem Brunnen verlor nie seine Wirkung.
Alice hat den Schalter umgelegt, und die Erde ist zu Wasser geworden. Wale, Fischschwärme, Haie und Seepferdchen ziehen um Alice herum, die in einer großen Weite schwebt und gleitet. Sie schwimmt, ein Mädchenfisch, bewegt sich mit den Strömungen.
Die Erinnerungen verlassen Alice und nehmen die Gestalten von Meerestieren und Pflanzen an. Regenwürmer sind zu Seepferdchen geworden, Nacktschnecken zu Thunfischschwärmen, Spinnen zu Krebsen, Kraken, Rochen. Korallenriffe gleichen buntem Wurzelwerk.
Unendlich reich und tief ist der Ozean. An seiner Oberfläche tanzen Schaumkronen wie die weißen Wolken über dem Horizont.
Alice hat Doktor Graus Garten verlassen. Der abendliche Wind hebt ihr Kleid vom Boden auf und trägt es hoch in die Luft. Dort segelt es mit den weißen Wolken, den Drachen, Menschenfressern, Pusteblumen, Felsen und Erdreitern bis übers Meer.
Einzelne Milane kreisen über dem verlassenen Garten, in dem noch ein Brunnen steht. Das hellblaue Wasser spritzt in einer hohen Fontäne in die Luft, schimmernd in der Abendsonne.
Die Katze wacht auf. Sie gähnt, reißt ihr Mäulchen auf, erhebt sich. Streckt ihre Glieder aus, nach vorne, nach hinten, spreizt die Tatzen, fährt die Krallen aus und wieder ein. Dann wandert sie durchs Gras davon auf Katzenart.
(c) Eva Wal, VG Bild |
1. Episode auf diesem Blog im Post 11. September 2017
2. Episode auf diesem Blog im Post 24. Oktober 2017
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5. Episode auf diesem Blog im Post 03. Dezember 2017
6. Episode auf diesem Blog im Post 10. Dezember 2017
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Die Prozession
Rondo
Stern
Der Himmel über Lissabon war blank gewaschen und blau. Eda hatte eine Reise begonnen, ohne Ziel, und die Welt stand auf dem Kopf. Das Flugzeug war kopfüber hierher geflogen, zwischen großen Wolkenkissen hindurch.
Hier im Jardim Botanico im Stadtteil Estrela, was “Stern” heißt, standen hohe Palmen, und auch die Straßenlaternen schienen in den Himmel gewachsen zu sein.
Die Palmen hatten Röcke, Hosen oder Windeln aus ihren abgestorbenen Blättern um ihre Stangenleiber herumgewickelt. Ihre Stämme waren Leitern hinauf ins Blaue, ins Helle, ins Nichts. Auf dem Kopf trugen sie Perücken mit struweligen oder langen, glänzenden Haaren; schwarz im Gegenlicht.
Edas Gedanken wanderten in den wuscheligen Palmenköpfen umher. Verirrte Sonnenstrahlen steckten kreuz und quer zwischen langen Palmenblättern wie Haarnadeln.
Die Palmen bildeten Spaliere, säumten die verschlungenen Wege durch den Garten, bewachten die Flächen, auf denen all die anderen Bäume, Büsche und Pflanzen wuchsen. Da waren Nadelbäume mit Seidenfingern, da waren ausladende Bäume mit fleischigen Blättern, da waren Bäume mit Sternenblättern. Wurzeln wie die Körperteile verwunschener Phantasiewesen bildeten eine Skulpturenlandschaft am Boden.
Nur ein fiebrig krankes oder wirres Hirn konnte sich soetwas ausgedacht haben. Ganze Völker dieser Wesen aus Hirngespinsten breiteten sich hier aus.
Hohe Mauern mit Fenstern umgaben den Garten. Aus ihren pechschwarzen Öffnungen wuchsen Stalagmiten von Taubenkot hervor. Tauben saßen überall. Fast konnte man sie übersehen, denn keine regte sich. Von außerhalb der Mauern brandete der Lärm der Stadt heran. Gedämpft, hohl, dumpf, nervös, schlaflos drang er durch brüchige Stellen in dieses zweifelhafte Paradies ein.
Ja, das zweifelhafte Paradies, dachte Eda. Nach ihrer Ankunft, die so kopfüber gewesen war, hatte sie gleich den Garten aufgesucht.
Eda trug ein Kleid aus hellblauem Stoff, das sie wie eine Glocke umgab.
Ein feiner Wind wehte. Wie ein Gewebe war auch er um sie herum. Ebenso der Lärm der Stadt und ebenso der Duft der Blumen, der Blätter, der Erde. Er war herb, betörend, zauberhaft. Ein fauliger Geruch strömte von den Mauern in die Mitte des Gartens dazu. Alles vermischte sich zu einer Art Ohnmacht, einem Schleier aus hellem, aber schwerem Stoff.
Eda erinnerte sich, dass sie hier immer vielen Katzen begegnet war. Bei ihrem letzten Besuch noch - wie lange war das her?
Sie fragte sich, wo die Katzen heute waren, denn sie hatte noch keine gesehen.
Novelle "Der Nelkensee oder Edas Reise, (c) August 2016) |
Liebe Nus,
danke für das schöne Foto, das diese Fotografen von Euch gemacht haben. Besonders habe ich mich natürlich gefreut, dass der Ventilator so gut darauf zu sehen ist.
Ich hoffe, Du hast auch etwas von dem Honorar abbekommen - etwas Kleingeld könnt Ihr ja wirklich gut gebrauchen.
Wie geht es Euch beiden?
Auf dem Foto seht Ihr ganz zufrieden aus. Wie schön und liebevoll Du Arni im Arm hältst!
Der Kleine scheint sich prächtig zu entwickeln.
Lasst Euch nicht unterkriegen von diesen oder jenen Gemeinheiten! Worte können Euch nichts anhaben. Ihr lasst sie doch einfach an Euch abprallen und schickt sie fort; der Ventilator wird sie davon pusten oder so durcheinander wirbeln, dass diese Beleidigungen nur noch unverständliche Plapperei sind. Dieses Geschwätz ergibt sowieso keinen Sinn.
Auf dem Foto lächelst Du so schön und friedlich, strahlst Zuversicht aus, dass ich mir sicher bin: Ihr schafft das! Ihr seid stark! Ihr führt Euer Leben so gut es geht. Arni kann sich freuen, so eine schöne, starke Mutter zu haben, die ihn nicht im Stich lässt, die zu ihm steht, auch wenn sie selber im Stich gelassen wurde.
Was Du mitgemacht hast! Was weiß ich schon, als das, was Du mir anvertraut hast mit feuchtschweren Augen und bleierner Zunge in all den Jahren, seit Arni auf der Welt ist, und was ich selbst erlebt habe als Deine Freundin. Damals, als wir Tür an Tür lebten und zur selben Zeit einen tollen Typen fanden. So toll! Das dachten wir zumindest. Groß und blond, from Australia, from the USA, from Europe, from Germany… Yes, how beautiful you are. Das haben sie gesagt, und es war so einfach für sie.
Alle Männer dort werden mit gelben Haaren und Taschen voller Geld geboren. Taschen? Nein, sie müssen aus Häusern voller Geld kommen. Aus großen, riesenhaften Häusern wie Burgen oder Schlösser aus Märchen oder Kriminalgeschichten mit Burglar-Alarm, einem Code an der Einfahrt in eine Parkanlage, die zu einem Anwesen hinter stattlichen Bäumen führt. Auf der Terrasse ein Pool, innen Klimaanlage, Zimmer-Bars, Betten von der Größe unserer Hütten… all sowas, was wir uns in unseren Vorstellungen erträumen oder zusammen phantasieren. Wir dachten, wenn wir mit diesen Männern trinken und lachen und sie uns in ihre starken Arme nehmen und uns überhaupt ihre Stärke und Überlegenheit und Männlichkeit zeigen auf diese und jene Weise, so dass uns die Leute im Viertel schief und verächtlich ansehen und tuscheln hinter unseren Rücken, wenn wir vorüber gehen - wir dachten, wenn wir uns darauf einlassen, uns ihnen anvertrauen, dann beschützen sie uns, und das viele Geld, das sie einfach so besitzen, fällt über uns wie ein Regen. Ach! Ach und weh, heute, meine liebe Freundin, wissen wir es besser.
Vielleicht sind wir ja selbst schuld, vielleicht haben unsere vielen Verächter ja Recht, die sagen, dass uns das Herz und die Seele fehle, dass wir Luder und Schlampen sind und wie sie uns nennen. Was tun wir nicht, um uns einen Vorteil zu verschaffen oder schlicht der Armut zu entfliehen.
Ich lebe heute dort, wo die Menschen Häusern voller Geld entstammen, auch wenn sie nicht in solchen Traumschlössern leben, doch ich versichere Dir: anstatt sich jeden Tag zu freuen, dass sie das Joch der Armut nicht tragen müssen, sind die Menschen hier unzufrieden, missmutig und misstrauisch. Dieses Paradies Deutschland, Germany, wo ich mit meinem Matthias lebe, dessen Kinder ich aufziehe, dessen Wäsche ich wasche, für den ich koche und dem ich zu Diensten bin bei Tag und in der Nacht, ist wie eine Hölle. „Wohlstandsgesellschaft“ nennt man diese Hölle der Langeweile, des Konsums und der Gleichgültigkeit.
Wieso erlöst das Geld die Menschen nicht? Mich erlöst es ein wenig, nicht mehr arm zu sein, das muss ich sagen. Doch jeden Tag betaste ich mein Leben wie etwas Fremdes, einen Fremdkörper - ist es denn meines, dieses Leben im Wohlstand und mit einem Mann, den ich nicht liebe?
Auch hier schauen mich die Leute schief oder verächtlich an, wenn ich an Matthias Seite durch die Straßen gehe: so Eine, eine kleine Thailänderin! Wo hat er sie gekauft?
Dabei sind wir verheiratet. Ich habe ihm eine Tochter geboren. Zwar nur eine Tochter, aber seine Söhne aus erster Ehe ziehe ich auch auf. Glaube nicht, dass das einfach ist!
Auch wenn wir unser Haus voll mit Ventilatoren stellen könnten, so viel Geld haben wir, ich sage Dir ehrlich, Nus, manchmal beneide ich Dich!
Du hast diesen Uwe geliebt, auch wenn es Dir keiner geglaubt hat. Irgendwann hat Uwe es Dir auch nicht mehr geglaubt. Du bist doch nur, Du hast doch nur… Liederlich bist Du auf Lebenszeit als Mädchen, das mit diesen gelbhaarigen, oft fetten und viel älteren Kerlen verkehrt. Doch Arni ist eine Frucht Eurer Leidenschaft. Du kannst ihn lieben und ihm eine gute Mutter sein. Ihn trösten. Ihn stärken. Trotz aller Bitterkeit glaubst Du an ihn und an Euch und an Euer kleines Leben auf einem traurigen Fleckchen ganz hinten in der Welt. Und glaube mir, auch wenn ich kein Geld verdienen muss, auch wenn es mir an nichts fehlt und Matthias gut zu mir ist: den Ventilator konnte ich Dir nicht so einfach besorgen! Ich musste richtig betteln, dem Matthias auf die Nerven gehen, ihn bezirzen… Was willst Du mit dieser Freundin, die kann schon für sich sorgen, die ist doch geschäftstüchtig, und er grinst mich an. Er ist da irgendwie hart. Ich weiß nicht, warum. Er tut gerne so, als gäbe es keine Vergangenheit. Er sieht es nicht gerne, wenn ich nur diese eine Verbindung zu Dir halte. Warum gönnt er uns das nicht? Es ist, als ob durch dieses kleine Fenster zur Vergangenheit eine schwüle, heiße Luft hereinkommt; der faulige Gestank, der überall in den engen Gassen unseres Viertels lungert und ihn ganz benommen macht. Das mag er nicht. Lieber erzählt er selbst von Thailand, von Bangkok, der aufregendsten Stadt, in der er je war, so prahlt er vor seinen Freunden und Bekannten. Und dann schwärmt er von den weißen Sandstränden mit Palmen vor einem dunkelblauen Meer wie im Katalog und romantischen Hütten mit Hängematten davor. Kinder, das glaubt ihr nicht!
Aber, meine liebe Nus, wie eine Schwester liebe ich Dich und will Dich hier nicht mit meinem Leben langweilen. Mein kleines, müdes Herz ist bei Dir und Arni.
Du wirst Deinen Sohn zu einem anständigen Mann erziehen, der sich nicht an seinen Mitmenschen vergeht - denn er weiß, wie es sich anfühlt, gedemütigt zu werden und ausgeschlossen zu sein. Und glaube mir, Nus, ich lasse Dich nicht im Stich! Ein Ventilator macht zwar nichts, als die Luft herumzuwirbeln und verbraucht dazu noch Strom, doch ehrlich: ich freue mich so sehr bei dem Anblick, dass ich bei Euch sein kann durch den Ventilator. Dass er Euch Kühlung verschafft inmitten dieser dicken, heißen Luft bei uns Zuhause im Viertel.
Zum Foto von Insa Hagemann und Stefan Finger,
in der Ausstellung "Menschenskinder, Kinderleben zwischen Wunsch und Wirklichkeit" am Arp Museum Bahnhof Rolandseck (bis 16. Oktober). Historische Gemälde aus der Sammlung RAU für UNICEF stehen Fotografien des internationalen Wettbewerbs "UNICEF-Foto des Jahres" gegenüber.
Das Foto ist hier zu sehen, bitte Ausstellungs-Flyer anklicken:
Ich betrachte das Haus. Licht spielt, tanzt, wird reflektiert auf den Fensterrahmen und dem matten Burgunderrot wie auf einer Wasseroberfläche. Schattentanz der Bäume: Linde, Weide, Birke. Und dann ein Vogelflug, nachgezeichnet im Licht, das flach auf den Balken liegt. Die Oberfläche unseres Hauses ist lebendig. Ich wünschte, es wäre dick und grün bewachsen. Außen hell, das Licht auf allen Blättern und innen feucht und dunkel, heimelig. Ich verschwinde darin. Das ist mein Wunsch.
Doch ich habe selber so eine lebendige Oberfläche. Kleine Wesen verschwinden in meiner Bewachsung. Vögel sind es, angelockt vom Gesang meiner Gedanken. Sie allein, diese Vögel in unzähligen Arten, erkennen die Dichtung in der Sprache meiner Gedanken. Meine Dichtung beginnt mit den Worten: 1. Blut, 2. Blutampfer, 3. rotes Ampferblut. Blüht, Blüte, verblüht. Es geht weiter: Johannisbeere, Milch, Lupinenmilch und Lupinenmehl; Brot aus Milch und Mehl der Lupinen. Löwenzahn und Wiesenschaumkraut, mein zartestes Wesen. Vergissmeinnicht. Es ist das Allerwichtigste, nicht zu vergessen und vergessen zu werden.
Da schlagen mich die Vögel mit ihren Flügeln und singen und rufen und schreien: Vergessen! Vergessen ist alles, erinnern ist nichts!
Die erste Magnolie springt auf, weißglänzender Frühjahrsstern.
Die fünfte Kameliendame erscheint; japanische Melancholie und Strenge auf den glatt geschnittenen Gesichtszügen. Matter Schimmer und ein Hauch Violett in feinem Rosa verborgen.
Ich trage einen großen, gelben Stern hinter der Stirn – eine Löwenzahnblume, ausgebreitetes Licht mit Zackenrändern. Hohe Stile mit weißer Milch, die in mächtigen Wurzeln münden. Pfähle in der Erde, tief verankert.
Ich ackere unter blauem Himmel. Später trinke ich einen heißen Espresso mit Milch und Zimt und halte mein Gesicht mit dem gelben Stern in die Sonne. Empfange Wärme.
Der Acker: ich hacke auf die schlechten Gedanken ein, manche sitzen fest. Es macht Spaß, ihnen die Wurzeln zu zerschlagen. Ich lade die Regenwürmer ein, mit mir zu ackern, mit mir zusammen in der Erde zu leben, doch hierfür muss ich sie bitten, mich einzuladen - ob sie mir verziehen haben?
Den einen oder anderen zerhackte ich wie einen bösen Gedanken. Ob sie mir überhaupt jemals verzeihen können? Dieser Schmerz! Auch, wenn ihre Körper wieder zusammen wachsen, muss doch da eine furchtbare Erinnerung bleiben!
Ich schaukele an der Linde, meiner Königin, und halte wiederum mein Gesicht in die Sonne. Der starke Ast der Linde hält mich so gnädig in meiner Schaukel; wie ein Lindenbaby schaukele ich sanft in ihren Armen. Dabei reibt das Seil, mit dem ich die Schaukel am Ast befestigt habe, an einem Astloch entlang. Tut das nicht weh? Ich werde ein Stück Leder oder Sackleinen darunter stecken; das habe ich mir schon länger vorgenommen. Und so lange tut es meiner Königin weh - jedes Mal.
Das schöne Beet am Backhaus habe ich gemacht. Die Erdebeeren frei gehackt und gerupft und gezupft. Der Bärlauch blüht, Waldmeister, Veilchen, Vergissmeinnicht. Gelbe Sterne einer Rankpflanze singen auf ihren dunkelgrünen Betten. Eine Flut kleiner, weißer Sterne tanzt vom Bärlauch heran und ergießt sich. Giersch schießt mit den Erdbeeren um die Wette. Keine Pflanze ist so schnell wie der Giersch. Warum?, fragen mich die Pflanzen, rupfst Du dieses eine Kraut? Was hat es Dir getan?
Ob es mir verzeihen kann?
Ob mir der Garten und all seine Lebewesen jemals verzeihen können?
(c) Eva Wal, Mai 2016 |
Himmel über Galé, Algarve, Januar 2016 |
Und als ich am Abend alleine am Strand entlanggehe in den Sonnenuntergang, da fallen die Wände um mich herum weg, stürzen ein, fort, davon, diese Wände dessen, der immer bei mir ist und mich bewacht (ja, seine Gegenwart bildet Wände um mich herum). Und nun beginnen all die Stimmen in mir sich wieder frei zu fühlen, flügge zu sein (sie kennen das, erinnern sich daran), und munter plappern sie herum und schwingen und schaukeln auf den Diamantschwingen und Diamantschaukeln in der Luft, und dann rollen sie davon. Wünsche werden sichtbar, zeigen sich; sie reiten auf Gedanken. Die Gedanken sind Pferde. Eine bunte, muntere Herde portugiesischer Pferde sehr unterschiedlichen Charakters.
Nun sinkt die Sonne, und ich sinke in die mir bekannte Ergriffenheit, eine sumpfige Erde, die mich von unten her, von den Füßen, die Waden hinauf anfüllt, als wäre ich eine Vase. Doch froh bin ich, heiter, umarme die Tragödie meines Scheiterns. Sehe aufeinmal mitten hindurch durch den Stoff Leben in eine glasklare, ferne, wohltuend fremde Luft.
Die Sonne berührt das Meer, sie haben Sex, dieser rote Ball dringt ein in die Haut und zerschneidet sich beim Hineingehen in das Fleisch an ein paar dahingleitenden Wolkenmessern. Dennoch ist sie vergnügt, lacht, diese hartgesottene Sonne, dieser tiefrote Ball. Ihre Kraft, ihre Unverschämtheit, ihr wildes Lachen aus einem ungeheuerlichen Raum machen mich heiter und ruhig, so seltsam das ist. Nichts ist in mir, alles brandet durch mich hindurch, dieses Rollen des Fleisches aus Meeresmasse. Reichlich Fische darin wie nervöse Empfindungen. Zappelnd, ergeben, aufsässig.
Der Mond bedeckt sich nun mit einer feinen Watteschicht, diese noble, blitzende Seelensichel des Abendhimmels. Und Fischerboote, und verschiedene Farben, das altbekannte Rosa, das von altbekannten Vögeln und ihren Rufen durchkreuzt wird, “wohin?” und “woher?”, heiser, gellend, schon weit weg. Diese Rufe sind auch heute Abend so alt und neu wie immer, und das beruhigt mich.
Januar 2016
Algarve, Januar 2016 |
und wünscht ihm eine gute Nacht. Dann verlässt sie den Raum
und schließt die große, schwere Tür.
ISLAND
Juni 2015
Juni 2015
Juni 2015
„Hmm“, machte der Mann und gab zum ersten Mal selber etwas preis: „Ich habe auch so eine Tasche.“
Bumerang und Kuckucksuhr
Schnee (c) Eva Wal, VG Bild |
Monolog im Schnee
Alles ist weiß geworden und bleibt es nun auch.
Eva Wal, Dezember 2010
Bruder Ernst, Bruder Alfons
(c) Eva Wal, VG Bild |
(c) Eva Wal, VG Bild |
Juli 2013
Die Ankunft der Goji-Beere
"Goji", Eva Wal, Juni 2013 |
Spuren der Übeltäter (Foto: Eva Wal) |
Zucker beim Italiener
Eiscafé Dolomiti in Bonn Tannenbusch, Juni 2013 |
Lilli und Lilli
Neumond Streetview III, 25. August 2012 |