23. September
Ich tauche aus der Stadt auf und setze mich ans
Wildgehege an der Waldau. Das Wild liegt auf der kurzgeschorenen Wiese, die Grasspitzen
glitzern im Wind und zittern wie die Schwänze der Rehe und ihrer Kitze, denen
es vielleicht zu warm ist, die vielleicht von kleinen Fliegen geplagt sind,
oder die nervös sind wie ich, voller zitternder, hin- und herschlagender
Gedanken. Rehe, Kitze, weiblich und männlich; Dammwild, Rotwild, man kann es
auf einer Tafel lesen. Zwei weiße Geweihträger, einige fast schwarze Rehe, die
anderen rotorange-braun mit den weißen Punkten, die das Tier fröhlich und verspielt
aussehen lassen. Eine junge Herde, Geburt im Juni, lese ich auf der Tafel. Ein
Tier steht auf, streckt sich, das Fell kurz und glatt, schimmernd, ohne ein
einziges, zitterndes, abstehendes Haar; eine glatte Einheit, geschmückt,
geziert von löffelartigen Ohren, seitlich abstehend neben den kugelrunden, niedlichen Augen, die mit der breiten, schwarzen, glänzenden, schmatzenden
Schnauze ein friedliches Dreieck bilden. Die männlichen Tiere tragen ein
archaisches Geweih aus der Vorzeit; grau, erhaben und uralt sieht es aus.
Voller Sehnsucht nach Kuchen und Wald nahm ich den Bus,
den ganzen Morgen schon Vorfreude im Bauch wie Hunger vor einer versprochenen
Mahlzeit. Endlich wieder genug Schlaf, Rekonvaleszenz. Langer Schlaf ist wie
ein Baum mit langen Wurzeln und einem Atem, der den Schatten der Insomnia
vertreibt. Ein Insomnia-Schatten ist der Schatten der Nacht, der nicht, kommt
der Tag, hinter ihn fällt, sondern auf dem Tag liegenbleibt, sich nicht erheben
kann. Ein alter Greis mit Mehltau im Bart und Steinen im Bauch. Der Schatten
fällt nicht, weder vor noch zurück, er klebt, ist festgeschweißt an den Bart
der Zeit – fehlt doch der Schlaf, der ihn beatmet und belüftet, durch Ruhe,
durch Träume, durch das tiefe Tauchen in die Tiefe des Bewusstseins. Wie oft
muss ich Insomnia erleiden! Zu oft, viel zu oft!
Die ruhenden Rehe drücken ihre Schnauzen an die Erde,
doch die Schwänze sind beschäftigt; dort hinten gibt es keine Ruhe. Wo fließen
Ruhe und Unruhe, Muße und Geschäftigkeit zusammen in ihren Leibern? Sonne,
wärmend und Wind, kühlend, verbinden sich und konkurrieren, hier draußen im
Wald.
Zuerst musste ich mich, gerade hier oben angekommen, von
einem Flimmer-Skotom befreien, „Gesichtsfeldausfall“ genannt oder „Augenmigräne“;
ein kleiner Infarkt, der Unruhe und Stress anzeigt im Gehirn. Dabei wird das
Sehfeld durch stroboskopartig flimmernde, zuckende und gezackte oder
schlingernde Bänder zerfräst. Man muss es loswerden, dieses Skotom, sonst, so
lernte ich, als es das erste Mal vor über zwanzig Jahren auftauchte in meinem
Leben, sterben Gehirnzellen ganz ab, weil sie zu lange nicht durchblutet
werden, und die Sicht kann dann möglicherweise nicht mehr repariert werden. Ich
bin also wieder einmal in Gefahr und muss mir dringend Ruhe verordnen. Ruhe im
Wald, was sonst suche ich hier?
So liege ich ausgestreckt auf einer hölzernen Bank in
einer zu den Seiten offenen Rundhütte mit kegelförmigem, aus Dreiecken zusammengesetztem
Dach wie einem Hut, mit Moos bewachsen und mit Baumsamen bestreut, und atme flach: lange aus,
dann Pause, flach ein, lange aus, Pause --- Halte die hohlen Handflächen über
die geschlossenen Augen, lasse den Blick nach innen sinken, fallen wie einen schweren Schatten in einen Brunnen, und ich höre, höre den Wald rauschen,
sprechen, erzählen, lauter und intensiver bei jedem Atemzug. So lange, bis sich
die Stroboskopbänder entfernt haben. Sie verschwinden, entweichen endlich von
innen nach außen wie Geister einer dystopischen Fiktion.
Es kann auch ganz harmlos sein, so ein Skotom, geht es
doch immer von selbst wieder nach einer Zeit, nicht länger als einer
halben Stunde.
„Was machst du?“, fragt mich ein behelmter Junge, etwa
fünf Jahre alt mit einem gefundenen Stock in der Hand. Kinder und Mütter sind
beschäftigt mit sammeln, suchen und finden; richten ihre Aufmerksamkeit auf
Futter, Stöcke, Steine, Blätter; was erdschwer ist oder fallengelassen wurde.
Fundstücke, Steine, Blätter... oder Wolken… so könnte man auch meine Betrachtungen
und Beschreibungen bezeichnen. Wozu, warum? Warum nicht? Es verbindet mich mit
den Strömen, innen und außen, mit denen ich verbunden sein will und macht mich
ruhiger. Ein Segler muss segeln, ein Flieger muss fliegen, eine Reiterin
reiten, eine Zauberin zaubern und eine Erzählerin erzählen. Ist das Zen?
Nun gehe ich weiter, bis ich wieder am Kaffeebüdchen am
Ausgang oder Eingang des Waldes anlange. Ich hoffe auf Kuchen, der Kaffee ist
mir fast sicher.
Ich bin zufrieden: Kaffee und Kuchen! Junge Familien,
mittelalte Bäume, verhaltener Kinderlärm vom Spielplatz, es ist Dienstag-Nachmittag
und nicht zu voll.
Das Angebot vom Kaffeebüdchen: 1 Stück Kirschkuchen und
ein Heißgetränk für 5 Euro. Ob ich die Sahne für 1 Euro extra obendrauf will? „Nein,
bitte daneben“, antworte ich.
Der wohl indischstämmige Kaffeebudenbetreiber wiederholt
die Frage und ich die Antwort. Nochmalige Wiederholung – ratlos hält er die
Sahnesprühdose über dem Kuchen und drückt schließlich ab: mitten auf den Kuchen
obendrauf. Was soll auch das Gefrage und das Geantworte, das nirgends hinführt.
Der Kirschkuchen ist nach altem Verständnis ein Pflaumenkuchen – tut’s was zur
Sache? Wie kürzlich die deutschsprachige Kassiererin im Supermarkt den Fenchel
in die Höhe hält und fragt: „Kohlrabi?“
Selten hört jemand zu, fragt und wartet die Antwort ab,
schert sich drum, merkt sich was, hält sich an was, versteht oder will
verstehen… Kohlrabikuchen mit Sahne auf dem Kopf – wer versteht noch die Welt?
Muss man dann AfD oder CDU, die LINKE oder DIE PARTEI wählen?
Ich schreibe, male Bänder, geschwungen, gezackt,
Gesichtsfeld-Zugaben, Bereicherungen, sanft funkelnd wie Edelsteine.
Der Atem ist im Moment, das Scharnier zwischen
Vergangenheit und Zukunft. Beim Atem sein, im Moment… Tag und Nacht sollen
gleich sein.
Eine alte Dame steht auf und kommt zu meiner Bank:
„Schreiben Sie über die Geräusche des Waldes?“, fragt sie mich und würdigt dann
den Platz, an dem wir beide verweilen. Ich bejahe. „Von Weitem“, sagt die Frau,
„sieht es so aus, als würden Sie ihre Memoiren schreiben“. „Das fließt alles
ineinander“, sage ich und frage mich 1., wie es von Nahem aussieht und 2. wie
es denn überhaupt aussieht, wenn man seine Memoiren schreibt.
„Man möchte mit
den Bäumen hinauswachsen“, höre ich die Dame nun schwärmen.
Rückweg: ein Café in der Südstadt. Elegantes Publikum,
junge, wohlsituierte Frauen mit fein eingekleidetem Hündchen. „Wie kann man nur
so hübsch sein?“, ruft eine der Frauen und küsst das Tier auf die Schnauze. Die
andere im Yves-Klein-blauen Modemantel, mit dunkelrotem Lippenstift und
monotoner Stimme, bezahlt die Runde. An meinen Tisch hier draußen, gelber als
der Briefkasten an der Ecke und noch gelber als mein Regenmantel, wird der
frische Ingwertee und der vegane Zitronenkuchen mit Himbeersauße serviert. Ich
schreibe weiter. Später bitte ich um einen Schluck heißen Wassers auf den halb
ausgetrunkenen Tee. Habe schon bezahlt und ein gutes Trinkgeld gegeben.
„Kriegen wir hin“, sagt die Bedienung, geht hinein, kommt wieder und sagt:
„also, für 1 € Aufpreis wäre das ok“. Für mich aber nicht, sage ich und denke:
lieber wieder in den Wald zum Kaffeebüdchen, wo eine Kirsche noch eine Pflaume
ist und man für 1€ extra einen Sahnetupfer geradewegs oben auf den Kuchen
bekommt.
Dann nehme ich den nächsten Bus, es ist schon Abend, dämmert
schon, und fahre nach Hause.
(c) Eva Wal, VG Bild