Montag, 24. Juli 2023

Sanary art épistulaire


 Seit 2019 schreiben wir uns. In Spiegelschrift handgeschriebene und künstlerisch gestaltete eigene und Welt-Literatur sowie Kommentare zum aktuellen Geschehen, privat wie global. Auf Postkarten, Plakaten, in Briefen, Buchobjekten, ausufernden bis installativen Formaten, Material-Collagen und Konstellationen.

Kennengelernt haben wir uns bei meiner Residenz-Ausstellung im September 2019 in Sanary, L'Atelier des Artistes, wo ich einige meiner poetischen Texte als Gewebe in Spiegelschrift zeigte. Siehe Postings Oktober 2019 auf diesem Blog.

 

   Laurence Courdier und Eva Wal

 

Bei unseren Treffen in Köln oder Sanary nimmt unser Briefkunst-Projekt jedesmal neue Wendungen, neue Ideen fließen ein, der Wind bläst aus und in andere Richtungen. Eine erste Ausstellung ist in Planung.

In diesem Jahr bringe ich eine Schriftrolle mit und beginne ein spontanes Gedicht ebenso spontan mit Wasserfarben und Kugelschreibern zu gestalten. Drauflos.

 

 

Laurence reagiert mit einem Gleichnis aus der Bibel (Buch der Richter 9, 8-15) über Bäume: Olivenbaum, Feige, Weinstock oder Dornbusch werden gefragt, wer Gott sein möchte.

Work in progress.



Mistralschlaf

 

 

Als sei der Schlaf ein Wehen ein Wehen das

den Schlaf fortbläst bevor er eintreten kann durch

offene Türen und Fenster die Fensterläden sind

geschlossen Licht quillt durch die Spalten Mistral

rüttelt an den Läden

 

Ich zähle Zikaden Sie sind das Meer in Wellen und Rhythmen

 

Raspeln das Blau mahlen es über die Möglichkeit von Blau in

zikadengrüne Kakophonie

 

 

Da draußen steht der Mond

da drinnen geht Erinnerung

 



 


 

Mistral Sleep

 

As if sleep was a swaying a swaying that

blows away sleep just before it is about to enter through

open doors and windows shutters closed light melts through slits

Mistral shaking shutters

 

I count cicadas

rhythm and rime of the sea

rasping grinding blue beyond the possibility of blue

Cicadagreen cacophony

 

 

Out there stands the moon

inside wander memories

 

 



Das künstlerische Treffen wird von einer Hitzewelle begleitet.

Ausflüge und Spaziergänge sind nur am frühen Morgen und Abend möglich.

Nächtlicher Seidenbaum und Lichtprojektionen in Hyères

Sterne und Andenken an die Wäscherinnen

 

Über Hyères liegt die Villa Noailles. In den 1920er Jahren errichtete sich dort das illustre Künstler- und Mäzenatenpaar Marie-Laure und Charles de Noailles auf dem Gelände eines ehemaligen Klosters eine Residenz.

1929 wurde dort der surrealistische Film "Les Mystères de Chateau des Dé" von Man Ray gedreht.

 
Die Geschichte der Villa ist interessant dokumentiert, phantasievoll kombiniert mit einem szenischem Rundgang über das Leben und Wirken des Paares de Noailles, eine vielteilige Hommage. Darin intergriert oder ergänzend werden Kunst- und Designstücke aus aller Welt sowie in Situ enstandenen Arbeiten etwa aus Keramik, Kork und dunklem Bienenwachs gezeigt. 


 

Ausblick von der Villa Noailles über Hyères



 

Die alte Glocke des ehemaligen Klosters


Morgenspaziergang durch Sanary nach Portissol, wo ich einen Hitzetag im Wasser und im Café verbringe mit Schreibkladde und Zeichenstift.









 


mirror artists' friends since 2019

 
 

Sonntag, 9. Juli 2023

Caféhaus-Zelebration

 

 An einem Tisch im Inneren, im Bauch des feinen Cafés, sitzen fünf Frauen. Alle tragen kleine schwarze Tücher auf dem Haar wie Segel. Eine Frau muss die Mutter sein, ist älter, die anderen jung, aber schon ausgebildet in ihrer Weiblichkeit. Sie tragen bunte, lange Kleider zu den Segeln und ihren rosig runden Gesichtern, die in Zucker schwelgen. Sie löffeln Torte, lächeln, lachen. Ihr Vergnügen überträgt sich quer durch den Raum bis zu mir. Heitere Wellen schwappen durch die Luft über Altrosa und Gold. Der Tisch ist schon abgeräumt, da wird noch ein luxuriöser Eisbecher durchs Café getragen. Die mit weiß beschürzte Bedienung kreuzt elegant zwischen Stühlen und Tischen, gefolgt von Blicken, um endlich das kunstvoll auf einem Tablett balancierte Glas, hoch und randvoll mit einer farbigen Melange aus Speiseeis, Sahne, Frucht und Sauce, obendrein geschmückt mit Strohhalm und Fähnchen, in der Mitte des Tischs vor den Frauen landen zu lassen. Sie heben die Löffel, und die Löffel senken sich in das Medium Eis, den wolkigen See der Süße. Zwischen beladenen Löffeln, die zu Mündern segeln und zurück, wie Jollen von einem sanften Wind geschaukelt, die Bewegung einem höheren Willen gehorchend, göttlich, natürlich, beides in Harmonie, ohne Zweifel, Widerstreit und Disput, schwatzen die Frauen, lachen, sind rot und rosig, geblümt. Dann erheben sie sich und gleiten die durch die Luft wie Vögel mit kleinen schwarzen Segeln auf den Köpfen. Ihre Kleider wehen, sie haben gebräunte, nackte Füße. Und in einem starken, warmen Wind, einem Mistral, heben sie an zu singen, einen Choral etwa, während es im ganzen Café nach Weizen riecht.

 


 

Donnerstag, 6. Juli 2023

Kaktozähn


Mein Lieblingscafé schmückt sich mit Blumen rundherum, doch sie sind alle tot. Verbrannt, gelb oder fast farblos stecken sie in knochentrockener Erde. Als müsste ich es noch beweisen, nachträglich den Eintritt des Todes dokumentieren, lege ich meinen Finger in einen der schmalen Blumenkästen auf die Erde. Trocken und hart, das ist eigentlich gar keine Erde mehr. Es sollte wehtun, den krümeligen, festen Staub zu berühren. Und die Pflanzen, einst Bauernnelken, sind keine Nelken mehr, sondern Menetekel für Cafébegrünungsabsichten. Und die Mitarbeiterinnen des Cafés sind eben keine Bauern oder Bäuerinnen, sondern Städterinnen, die eine klimafreundliche und nachhaltige Idee hatten, als sie das Straßencafé mit Paletten eingrenzten und diese bepflanzten, ebenso die Fensterbretter zur Straße. Fancy Grün mit netten Farbtupfern. Doch leider nicht klimasicher, wahrscheinlich reichte ein Ruhetag, um die feine Pracht auszudörren. Ich stelle ja schon in meinem Gartenteich binnen weniger Tage, an denen es noch nicht einmal besonders heiß ist, eine drastische Absenkung des Wasserspiegels fest. Viel Ozon in der Luft, lese ich. Heute ist es ausgesprochen kalt, mitten im Hitzesommer. La Niña und El Niño, das Yin und Yang der Klimakatastrophe. Ich frage mich, ob hier im Café noch jemanden außer mir der Anblick toter Blumen und was damit zusammenhängen mag beschäftigt.
Ich sitze am Fenster zur Straße. Die Zuckerdose trägt das Bild eines blau blühenden Enzians auf edelweißer Glasur mit feinem Goldrand. Es wirkt wie melancholisch-froher Gruß aus der Vergangenheit. Die Bedienung stellt ihn neben meinen schon leeren Latte Macchiato. Der Enzian grüßt herüber zu einem großen Kaktus in der Ecke. Der scheint sich hier wohlzufühlen, durchaus klimasicher und also zukunftssicher. Hellgrüne runde Blätter sprießen aus seinen Stacheln, oder sind das Angst- oder Geiltriebe, die durch Lichtmangel entstehen? Als ich das Café verlasse, sehe ich noch mehr verschiedene Kakteen. Die einzig Überlebenden draußen auf der Fensterbank und drinnen im Gang sind Kakteen. Natürlich!
Vorsichtig strecke ich meinen Finger aus, um die frischen Blätter des Kaktus hinter der Zuckerdose zu berühren. Ob sie echt sind oder doch aus Plastik? So genau kann man das gar nicht sehen.