Sonntag, 4. Dezember 2022

Liebet den Wald!

 

Es steht geschrieben:

 

Liebe den Wald!

            Seine vielzüngigen Sprachen

 

Durch das Geäst - vom Flug der Kraniche

gezeichnet - hinein in Novemberschleier

bis an die Berge

     tönt das Zwiegespräch der Zedern

Schwesterngeflüster in blauschwarzen Wipfeln

 

Zu ihren Füßen steigen Torsi auf und Damen in Laubkleidern

Jahreszeitenchamäleons

 

Pilze - wohnen überall - wispernd

   durch die Rhizome - die Venen in Leuchtschrift

 

Durch dumpfen schweren Moder

rufen schreien sie: Liebet den Wald!

 

Umarmt die knorrigen Stümpfe - Elefanten in

    silbernen Häuten - die Knoten an den Leibern tragen

 

Der Wald: Savanne für Wesen aus Märchenbüchern

 

Dort steht es geschrieben - mit Baummark getropft

                              -  getuschte Linien - versiegelt mit Harz

 

Der Wald, der heimelige, heimliche Wald: stirbt nie.

 

 

 

 














Das Gedicht und die Photos entstanden wie sooft in der Waldau, Haus Annaberg und Umgebung.


Freitag, 2. Dezember 2022

Tierisch! eine ekphrasis

Texte, die Bilder beschreiben, so, dass Zu-hörende zu Zu-schauenden werden, nennt man Ekphrasis.

Hier zwei Beispiele zur Ausstellung Tierisch was los! im Arp Museum Bahnhof Rolandseck, in der Kunstkammer Rau, ganz ohne Abbilder.


Schlafender Hahn

 

Da steht das Tier, wirft Schatten in Graustufen auf den Sockel, auf dem es steht und schläft.

Es ist vollplastisch geformt, aus dunklem, warmem Holz, so meinte ich zuerst, poliert, also glänzend. Doch es ist gegossen, aus Bronze, braun mit ein wenig rostrot darin. Ich könnte das Tier in meiner Hand halten. Zwei-, dreimal so groß wie ein Küken, doch kleiner als ein ausgewachsener Hahn.

Es ist ein Hahn, zu erkennen an zwei langen Federn hinten, den Körper verlängernd, und dem stolzen Kamm vorne, auf dem Kopf. Die Brust geschwollen, die Körperform einem langen Linienschwung folgend, der in den beiden Schwanzfedern mündet. Eine links, eine rechts, darunter die anderen Federn angedeutet, gezeichnet und zusammengefasst in einer kurzen, kantigen Fläche. Ein Winkel, wie eine Häuserecke, der untere Abschluss des Hahnenkörpers.

Alles ist vereinfacht, alles sonst gerundet und die Oberfläche samt und sonders glatt. Lange wurde daran gearbeitet.

Ein Hahn, nicht stolz, sondern schlafend. Den Schnabel nach unten gestreckt zum Kinnlappen, nur angedeutete Linien das Gesicht, die geschlossenen Augen mit einem Spalt wie in einer Walnuss, die Ohren ein Fragment. Doch der Kamm beschreibt einen steil aufragenden Gebirgszug, eine Silhouette. Ein uraltes Gebirge, das von der Entstehung der Welt erzählt.

Ich trete zurück, zur Seite, dann gehe ich frontal auf den Hahn zu. Nun ist der Kamm eine Schneide über kugeliger Brust. Von wieder anderer Perspektive, es ist ja eine Plastik, um die ich herumgehen kann, sehe ich ein gezacktes Herbstblatt, die Herrlichkeit des Hahnes anzeigend sogar im Schlaf.

Ein ungewöhnlicher Schlaf, denn Hühner und Hähne schlafen natürlicherweise auf Bäumen, oben, die Zehen um Äste gebogen oder im Hühnerhaus um die Stange.

Dieser Hahn hat lange, zarte Zehen, auf dem Bronzesockel ausgestreckt mit Resten von Schwimmhäuten dazwischen, die an seine frühe Herkunft als Amphibie erinnern. Ich weiß, wie kräftig, wie warm und unglaublich weich sich diese Hahnenzehen anfühlen, wenn sie sich um meine Hand legen.

Man kann Hahnenfüße essen. Dafür werden die Schuppen, die wie eine Rinde eng um das Fleisch der Beine und Zehen gewachsen sind, in mühsamer Kleinarbeit abgetrennt und die Krallen gezogen. Für manche eine Delikatesse.

Der Hahn schläft friedlich, in sich gekehrt. Ein Hahn muss sicher sein, wenn die Nacht kommt, denn bei Dunkelheit sieht er nicht. Seine Familie muss in Sicherheit sein. Er ist ein Familientier und ein Kampftier. Tags muss der Hahn bereit sein zu Angriff und Verteidigung. Bereit zu töten. Rivalen, auch seinesgleichen, Brüder, mit denen er aufwuchs und die ersten Hahnenschreie erprobte im Spiel.

Ein Bildhauer schuf diesen schlafenden Hahn. Er erfand diese Ruhe für diesen Schlaf, natürlich und künstlich zugleich. Er muss um die Weichheit des Federkleids gewusst haben. Weich wie glatt, strömend durch die Oberfläche des erstarrten, feuergegossenen Metalls. Ich habe Sehnsucht, den Hahn mit meinen Händen zu umschließen.

Er mag träumen, der Hahn, in den Händen des Künstlers, der ihn zuerst formte aus Ton.

Ich liebte meine Hähne, die ich töten musste, und wünsche ihnen Frieden im Hahnenschlaf, in erdtiefer Bronze, weich poliert wie die Essenz von Federn.

 

Fançois Pompon, Schlafender Hahn, 1907

 

 

Vexierspiel

 

Ich halte meinen alten Kater auf dem Arm. Zusammen betrachten wir eine Maus, die aufgestellt, die Vorderpfötchen zusammengesteckt, den Schwanz wie einen glatten, feinen Malpinsel hinter sich im Bogen ausgelegt, die Härchen um die spitze Schnauze zitternd, die Ohren rund wie Kleeblätter, die Kugeläuglein aufmerksam fragend, vor uns steht.

Wir legen den Kopf schief, so dass die helle Fläche, auf der die Maus steht, das Bild diagonal teilt. Sie verläuft vom oberen Drittel etwa im goldenen Schnitt nach unten rechts. Melancholische Linie, Dramatik.

Der Hintergrund ist dunkel, schwarzgrau, tief.

Schwarzweiß ist das Bild, körnig die Punkte in allen Graustufen auf dem stark vergrößerten Abzug. Ein fingernagelgroßes, weißes Staubkorn unten rechts bezeugt das analoge Handwerk.

Hand- oder mannskopfgroß die Maus, in die menschliche Dimension erhoben. Der menschliche Kopf zum Giganten gewachsen.

 

Mein alter Kater ist Phantasie, ist Erinnerung. Wie wir da standen und gemeinsam eine Maus betrachteten, die, wahrscheinlich starr vor Schreck vor uns stand, uns anblickte, nur einen halben Katzensprung entfernt. Der Kater aber, schwarz, alt und satt, blieb ruhig in meinem Arm liegen.

 

Ich betrachte das „Selbstportrait mit Maus“. Bin die Spitze des Dreiecks des sich selbst abbildenden Fotografen und der Maus, seiner Maus. Unserer Maus. Ich bin dort, wo der Selbstauslöser sein musste, unsichtbar im Bild. Ich bin ebenfalls unsichtbar und der Fotograf auch, denn sein Gesicht ist hinter der Nikon-Kamera, um die er seine Hände schließt. Die rechte Hand oben, den Ring für die Schärfe drehend oder die Vergrößerung, die linke Hand hält das Objektiv. Seine Hände und seine Haare, schwarz-weiße Strähnen, etwas Jacke, mehr sehen wir nicht von ihm, die Hauptsache ist die Kamera.

Die Maus ist ganz zu sehen, trägt Fell, Barthaare und Schwanz. Frech vielleicht, wie Mäuse manchmal sind, wenn sie auf dem Tisch tanzen, sogar, wenn der Fotograf oder die Katze zuhause ist.

Der Künstlertrick wird mir erst jetzt bewusst: nicht das Bild sehe ich, das der Fotograf mit der Nikon machte. Nein, ich schaue ihm dabei zu, wie er ein Bild macht aus einer Perspektive, die ich gar nicht einnehmen kann. Er sieht die Maus frontal und die Maus schaut direkt ins Objektiv seiner Kamera. Ich sehe eine andere Maus!

Bin nicht das Selbst des Selbstportraits, doch bin ich am Bild beteiligt; als Voyeurin, Zeugin und Auslöser. Ein Vexierspiel. Ohne es zu merken, habe ich in meiner Erinnerung die Perspektive des Fotografen eingenommen.

 

Ich halte meinen alten Kater auf dem Arm. Zusammen betrachten wir eine Maus, die in der Küche vor uns auf dem Tisch tanzt. 

 

Walter Schels, Selbstportrait mit Maus, 2000