Donnerstag, 28. März 2024

Væsener


ist dänisch. Englisch: creature, deutsch: Wesen.

Sichtbar und unsichtbar, fanden wir Væsener, Wesen, auf der Insel Fanø in Dänemark.


Ist das Meeresrauschen ein Wesen?

Ist ein Pool aus Regenwasser, der sich in den Dünen sammelt, ein Wesen?

Sind Muscheln, Farne, Moose, Flechten - Wesen?

Ist etwa die ganze Dünenwelt ein großes Wesen, das kleinere Wesen umhüllt?


Eine Woche lang streiften wir täglich stundenlang durch die Dünen, ohne anderen Menschen zu begegnen. Nach kurzer Zeit fiel mir das kaum mehr auf, es kam mir so selbstverständlich vor, dass ich nicht darüber nachdachte. Jedoch mag die Abwesenheit von Menschen die Anwesenheit anderer Dinge oder Wesen verstärken, die vielleicht erst dadurch als Wesenhaft wahrgenommen werden.

Eine zapfengeschmückte, reich verzweigte Kiefer in einem Teich aus Regenwasser, silbern glitzernd, das Blau des Himmels vielfach verstärkend.

Ein Fuchs, der aufspringt, wenn Menschenfüße jenen Pfad entlangstapfen, auf dem er sich gerade sonnt.
Es musste ein Fuchs sein, welchen ich in den Sekunden, in denen er aus meinem Blickfeld verschwand, nur als Fragment wahrnehmen konnte: dicker Schwanz, Hinterläufe, dichtes, helles, rötliches Fell.

Sind diese Fragmente ein Wesen? 

Über uns kreisen Seeadler, auf der Suche nach Kaninchen, die hier in Hülle und Fülle leben. Sichtbar meistens nur die Eingänge zu ihren Baus, ein jeder ein dunkler, strudelnder, die Phantasie befeuernder Eingang in ein Wunderland, von hier aus unsichtbar.

Rehe gehen in der Dämmerung, morgens stehen abgeknabberte Triebe am Weg.

Hinter uns, vor uns und zu allen Inselseiten liegt das Meer. Kegelrobben lagern auf Sandbänken vor dem Strand. Mit auf nassen Speckbäuchen gekreuzten Flossen, glänzenden Rücken, Schnauzen mit zitternden Barthaaren, darüber schwarzen Kugelaugen in runden Köpfen, sind sie den Blicken vorübergehender Wesensucher preisgegeben.
Doch im Wasser, da unten, da draußen, ist alles voll verborgener Væsener. Im Anschlagen der Brandung, im Rauschen des Windes, der durch das Dünengras streift wie ein Wolf, dessen Fell abgestreift über einem in einer Senke halbverborgenen Wald aus Gestrüpp liegt. Violetter Schimmer darüber. Eine Wolke schwebt heran in drängendem Schleiertanz. Das Dünengras flirrt falb und schüttelt sein Silber. Es hat sich wohl vom Meer hierhin versplittert.

Silber wird zu Gold, zu Rot-Rosa und Orange, zu Dunkelheit. Und taucht wieder auf...

Der Mond, ein Wesen? 

Reisend, vielbesungen in seinem (ihrem) An- und Abschwellen, Erscheinen und Verschwinden. In leuchtender Sichtbarkeit an einem klaren, sternenbevölkerten Nachthimmel wie heute. Voll, also (fast) rund, wie eine Vollendung.

Ist Frieden ein Wesen? 



















Fotos: (c) Eva Wal, VG Bild


Zum Thema Wesen, "creature", der Podcast "Poetry Worth Hearing" von Kathleen Mc Philemy, in deren Folge Episode 21 mein Gedicht "The Whale in the Void" vertreten ist: