Montag, 12. Februar 2024

Tagauge Nachtauge

 



 Gouache auf Papier, ca 300 x 74 cm, Oktober 2023 

 

Tagauge Nachtauge

Eine Geschichte zum Winterschlaf

 

So sehr hatte ich es mir gewünscht, seit der Kater gestorben war: ein Wesen, das zu mir käme, sein Leben lebe nach seiner Art und bei mir bliebe, mit mir zusammen in solitärer Eintracht. Ein Rabe hätte es sein können; auf meiner Schulter sitzend, mein Treiben beobachtend. Manchmal gäbe er mir einen Rat, würde zu meiner inneren Stimme. Oder ein Bär, eine Bärin; sanft, groß und stark. Ein Krafttier.

Nun war ein Schmetterling da, ein Tagpfauenauge. Wochenlang schon flatterte es immer wieder hinter meinen Blumentöpfen auf, kreuzte den Raum taumelnd von einem Dachfenster zum anderen, ließ sich schließlich auf dem Fensterrahmen nieder, faltete sich zusammen und blieb dort auch dann regelrecht kleben, wenn ich das Fenster öffnete, um ihm die Möglichkeit zu geben, doch noch hinauszutrudeln in die frische Oktoberluft.

Doch mein Schmetterling blieb bei mir. Er mochte es wohl warm und behaglich. Hatte er sich mein Dachatelier als Winterquartier ausgesucht, oder wollte er hier sterben?

Ich schaute nicht im Internet nach, wo das auf einen Blick herauszufinden wäre. Nicht einmal das Haus müsste ich für eine Recherche verlassen. Wollte es wohl durch Betrachtung und Beobachtung herausbekommen oder am besten durch dieses feine Band zwischen unserer gemeinsamen Existenz in einem Raum erspüren.

„Schmetterlinge sterben im Winter“, sagte mein Mann, und ich hinterfragte es nicht. Erst als ich ein Foto meines Gefährten auf Whatsapp teilte und eine Freundin etwas von „Winterschlaf“ schrieb, entschloss ich mich zu wahrer Freundschaft durch Vernunft und Aufklärung. Der erste Blick in den Artikel, der mir bei meiner Google Suche entgegensprang, zerstörte das mystische Band: „Wärme“, so stand es da „ist der Tod von Schmetterlingen im Winterschlaf“ wie Tagpfauenaugen. Schmetterlinge, die nicht gleich Zugvögeln in wärmere Gefilde flattern wie der Distelfalter oder der Admiral, brauchen Kälte und Feuchtigkeit. Sie verdursten auf Dachböden und können nicht zur Ruhe kommen, wenn es zu warm ist. Sie lieben Efeu, Verstecke zwischen Steinen, im Dickicht.

Immerhin hatte ich meinem Freund eine flache Schale mit Honigwasser zwischen die Blumentöpfe gestellt. Einmal war es mir sogar gelungen, ihn zu füttern. Da saß er auf meinem Handteller, klebte sich an meine rillige Haut, fuhr seinen Rüssel aus und sog das Wasser von einem kleinen Plastiklöffel. Irgendwann rollte er seinen Rüssel wieder ein wie einen Farn. Vielleicht hatte ich ihn so vorm Verdursten gerettet.

Streicheln konnte ich ihn freilich nicht. Mein biologisches Wissen reichte doch noch so weit zu erinnern, dass die delikaten wie prachtvollen Flügel dieser Wunderwesen mit Farbpigmenten besetzt sind und eine Schicht bilden, die bei jeder Berührung durch überdimensionierte Menschenfinger zerstört würde.

Wie melancholisch und weise mich die Augen auf den Flügeln meines schutzsuchenden Tagpfauenauges anzusehen schienen! Fast hätte ich ihm oder ihr einen Namen übergestülpt. Hermann oder Hermine, das Tagpfauenauge.

Es war Zeit, meine Freundschaft zu beweisen und Abschied zu nehmen. Die Aufklärung hatte über romantische Verklärung gesiegt. Doch ich konnte weiter Gutes tun. Baute ein Schmetterlingsnest in meinem Garten. Legte Steine in einen Kübel mit Efeu, fügte Moos hinzu und fand eine Emailleschüssel, die ich als schützenden, aber luftdurchlässigen Deckel verwenden konnte. Immer noch würde das Tagpfauenauge also bei mir sein, draußen im Garten, auf den ich durch mein Dachfenster hinunterschauen kann.

Ich ging wieder in mein Dach, nahm den Schmetterling in meine Hand, und wieder saugte er sich in meinen Handteller hinein. Die andere Hand schloss ich darüber, bildete eine kleine Höhle, in der ich meinen Mitbewohner nach draußen brachte und in das Winternest setzte. Dann ging ich, um nach einiger Zeit nachzusehen, wie er sich verhalten habe.

Ich fand ihn nicht. Ging wieder, kam zurück und schaute noch einmal nach. Schaute und schaute. Dann entdeckte ich ihn. Zusammengefaltet und perfekt getarnt in grau-schwarzem Nachtkleid hing er wie eine Fledermaus an einem Efeublatt. Wie sehr ihm das Blatt glich in Form und Farbe! Zufrieden und etwas wehmütig hob ich die Schüssel wieder auf das Nest und schloss das Winterquartier.

Wie vielen Schmetterlingen und Faltern hatte ich schon bei ihrem Tanz im Frühjahr und Sommer zugeschaut; hatte gefilmt, fotografiert, gezeichnet und gemalt ohne ein annähernd grundlegendes Wissen über ihre Biologie. Hatte nur ihre trudelnde Erscheinung betrachtet und bewundert. Wie gehört beides zusammen? Das fragte ich mich nun wieder.

Zurück in meinem Dachatelier, es war Nacht geworden. Ich war beschäftigt mit meinem Bild an der Wand, mit Pinsel und Farben. Plötzlich, ohne die leiseste Absicht, kam das Tagpfauenauge zurück. Es erschien auf dem Papier, zusammen mit einem ganzen Schwarm Artgenossen, die sich zum Winterschlaf an Efeu hängten. Für immer mein, für immer frei.

 

 






(c) Eva Wal, VG Bild