Freitag, 27. Oktober 2017

Reisetag mit Dionysos

Schreibtag im Arp Museum 

Dieses Mal begaben wir uns auf eine besondere Reise, angeregt von den drei Exponaten der Ausstellung von Werner Klotz im Künstlerbahnhof, die den griechischen Gott Dionysos im Titel tragen. Wer kennt nach dem bekannten Gott des Weines den Mysteriengott Dionysos, über den Nietzsche schreibt, dass die griechische Tragödie in ihrer ältesten Gestalt nur die Leiden des Dionysos zum Gegenstand hatte?

Wir betrachten die Reisebar des Dionysos im Café und Festsaal des Bahnhofs und zwei Vitrinen mit Gläsern, Flaschen und Scherben an den Wänden des Aufgangs zum Café. Orakel wurden aus Glasscherben gelesen, steht im Ausstellungsbegleiter; doch seit wann gibt es Glas? Seit über dreitausend Jahren kannten es die Ägypter; das älteste bekannte Glasrezept in Keilschrift stammt von einem assyrischen König um 650 v. Chr. und lautet: Nimm 60 Teile Sand, 180 Teile Asche aus Meerespflanzen, 5 Teile Kreide - und Du erhältst Glas. Ergänzen ließe sich noch, dass wir zum Glas schmelzen einen Ofen benötigen, der auf mindestens 1.400 Grad erhitzt werden kann.




Fotos von Brigitte Dietrich

In der Museumsbibliothek erhält jede/r Teilnehmer/in weitere Reiseanregungen durch eine assoziative Sammlung von Dingen aus meinem Fundus und Reisebegleiter  wie zum Beispeil eine Muse und zwei verschlossene Umschläge mit Postkarten und der Aufschrift: Nur Reisen ist Leben, wie umgekehrt das Leben Reisen ist, einem Zitat von Jean-Paul.



In einer vollen Stunde Schreibzeit entstehen dieses Mal ganze Märchen, Kurzgeschichten, aber auch Gedichte, kurz oder lang. Witziges, Tragisch-Schauriges oder Nachdenkliches. Der Vortrag der frisch geschriebenen Texte ist jedes Mal ein erstaunliches, berührendes Erlebnis.





Fotos: Eva Wal

Die Schreibtage am Arp Museum finden drei Mal im Halbjahr statt und sind offen für alle, die gerne schreiben, ob mit oder ohne Erfahrung. Informationen und Termine hier auf diesem Blog unter projekte/ künstlerworkshops und auf:  www.arpmuseum.org

 Post zum vergangenen Schreibtag: Alles fließt, 3. Oktober 2017
 

Dienstag, 24. Oktober 2017

Alices Sommer II

Alice
7 Episoden

2. Episode

Geschrieben 2013 und 14, überarbeitet, herausgegeben
und illustriert von der Autorin im August 2017


Nachmittag im Hochsommer

Alices Sommer

Als Alice sich in den Finger schnitt, war es reine Absicht.
So glücklich ist sie nun, dort oben zu stehen, auf dem steinernen Vorgartenplatz, und den Weg vom Haus hinunter zu schauen. Hier oben steht der Brunnen mit dem blauen Wasser, und Alice blutet heftig aus dem kleinen Finger.
Über die Auffahrt fahren Pferdekutschen, Eselskarren und Autos der Marken BMW, Rolls Royce, Jaguar oder Mercedes entlang; niemals aber Fahrräder. Es ist ein reines Vergnügen für Alices Vorstellungskraft: ein Fahrrad!
Doktor Grau ist dagegen, dass Alice Fahrrad fährt oder reitet. Aber Alice tut es hemmungslos in ihrer Fantasie, und es fühlt sich so stark an wie ein Fahrradsattel oder ein Eselsrücken sich niemals anfühlen kann.

Das Blut tropft in schnellem Rhythmus, der Finger pocht wie der Atem eines aufgeregten, in Gefangenschaft geratenen Tieres. Alice bewegt die Hand mit dem Blut wie im Tanz; die roten Tropfen spritzen auf ihr schönes, helles Kleid. Sie dreht sich und dreht sich noch einmal - und steht vor Doktor Grau. Sie sieht an ihm hinauf und trifft seine Augen. Streng, grausam, hilflos blickt der Doktor zum Kind Alice herab. Ein heller Kreis um die Pupillen herum. Helligkeit ohne irgendein Leuchten.
Hell, hell ist Alices rot bespritztes Kleid und auch ihr Lachen. Doch was zu weit geht, geht zu weit.

Brav bricht Alice nun in Tränen aus, anstatt zu lachen. Doch innerlich tönt und dröhnt ein Glockengesang in ihrem Körper, dort in der Kathedrale hinter ihrer Brust, während sie Doktor Grau mädchenhafte Hilflosigkeit und törichtes Verzagen vorspielt, Versagen und Dummheit dazu; eine Melange jedenfalls, die sie intuitiv genau auf Doktor Graus Charakter und Psyche abstimmt, oder ihrer Einschätzung davon, so wie Doktor Grau es andersherum mit den Tabletten tut, die er Alice regelmäßig verabreicht.

Die Sichel, mit der sich Alice in den Finger schnitt, liegt im Gras. Grau und unscheinbar der Stahl. Ein Halbmond. Eine Form, die Alices Mädchengeschmack trifft. Wie ist die Sichel in ihre Hände gekommen? Das will Doktor Grau nun wissen.
„Alice?!“
Alices Tränen, die aus ihren geweiteten Augen strömen, erzählen von Unwissenheit und Reue. Ohne den Kopf zu bewegen, nur die Augen in die Winkel verdreht, sieht sie durch ihre Locken in Richtung Auffahrt. Es ist ihr, als höre sie Hufe auf die runden Steine treten. Kaltblüter. Langsame, schwere Riesentiere mit schnaubenden Nüstern und sehr langen Mähnen.
Ein Schluchzen stürzt ihre Kehle hinauf. Sie ist ein Vogel in Doktor Graus Faust.
Doktor Graus Schmiss zuckt. „Nun gut“.
Auch er sieht jetzt aus unbekanntem Grund in Richtung Auffahrt, als erwarte er jemanden, habe einen angekündigten Besuch fast vergessen oder befürchtet, dass ihm etwas zu entgehen droht.
Ein Blumenmädchen, ein Rolls Royce. Das Blumenmädchen gestürzt. Zermatschte Blumen über die Auffahrt verteilt.

Alices schönes Kleid ist versaut. Mit den Tränen tropft das Blut. Tripp, tropp. Dummes Mädchen!
Alice lässt das Kaltblut durch ihre Adern galoppieren. Da ist was los, wenn ein Kaltblut galoppiert! Das Blut quillt, schießt, sprudelt, und wenn es eine Öffnung, eine Wunde gibt, aus der es austreten kann, ist jedes Kleid futsch.
Glockenschlag und Lachen, Musik.
Dagegen Doktor Graus eisiges, aber kontrolliertes Verhalten. Eine Entscheidung:
„Alice!“
Straffreiheit für das Kind. Begnadigung im Sinne seines Plans.

Mit gesenktem Lockenkopf geht Alice vor Doktor Grau her. Schallend lachen die Gedanken, freudig zankende Wesen. Alice ist eine Hülle mit gesichelter Wunde bis knapp über dem Gelenk des kleinen Fingers an ihrer zarten, linken Hand. Schauspielerin, Alice, das kleine Biest: Chapeau!

Wäre sie eine Katze, würde sie nun Doktor Graus Hand lecken, wie er ihr die Wunde verbindet. Wie konnte der Gärtner nur die Sichel im Garten liegen lassen, und wie konnte das Kind so dämlich sein, sie zu nehmen!
Alice schaut so dumm drein, dass Doktor Grau nicht mehr darüber nachdenkt, was Alices Absicht gewesen sein könnte, und was sie noch alles hätte anstellen können.
Hohe Schule des dümmlichen Mädchenblicks.
Doktor Grau:
„Alice?!“

Mit gesenktem Kopf auf das Kleid blickend, muss nun Zauberlist angewendet werden.
Das blaue Wasser im Brunnen auf dem steinernen Vorgartenplatz darf Alice jetzt benutzen, um das Kleid zu reinigen.
Tonloses Jauchzen in ihrer Kathedrale. Über die Auffahrt tanzt ein Heer barfüßiger Blumenmädchen. Doktor Grau steht unbeweglich oben vorm Haus. Sein schütteres Haar weht im Wind. „Hässlich, hässlich!“, lachen und spotten die Blumenmädchen. Sie schütten sich aus vor Lachen. Blumen fliegen, taumelnd wie Mückenschwärme, die Auffahrt hinauf.
Doktor Grau hat die Sichel in sichere Verwahrung gebracht.
So geht es nicht, nicht noch einmal.
Alice!



 Eva Wal

1. Episode auf diesem Blog im Post September 2017


Dienstag, 3. Oktober 2017

Alles fließt

Schreibtag im Arp Museum 
Immer wieder ein ganz besonderer Tag mit fruchtbarer Auseinandersetzung, Vertiefung, Schreiben, Lesen und Zuhören. Dieses Mal fand der Workshop in der Ausstellung Werner Klotz, "Das Auge ist ein seltsames Tier", im Künstlerbahnhof statt.   www.arpmuseum.org

 

Alles fließt, πάντα ῥεῖ, so sagte schon Heraklit: man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen, denn der Fluss ist nicht derselbe, und ebenso ist der Mensch niemals derselbe im nächsten Moment ... ein ewiges Werden und Vergehen.

Pat Winslow, eine der am Oxford-Bonn-Austausch beteiligten Dichterinnen aus Oxford, beginnt ihren letzten Blogeintrag, einen Reisebericht, der auch die Begegnung der Dichtergruppe Oxford Stanza 2  mit der Schreibgruppe am Arp Museum Dada war alles gut beschreibt:

Quietly flows the river...

The Greek philosopher Heraclitus  said that no person can ever step in the same river twice because it is never the same river and the person is not the same person. However much we may wish to go back, however much we may wish to repeat the same experience, we are stuck in the present, going forward. Stuck is the wrong word, of course, because  the present is always changing. If stasis exists it is entirely of one's own construction. It exists in the mind.


https://thepatwinslow.blogspot.de


Spiegelung des Decken-Freskos im Künstlerbahnhof


 Das Außen im Innen und das Innen im Außen: 
"Rotating Mirrors", Geister und Lichter im Café
und Wasser überall.




 Schreiben in der Bibliothek

Fotos von Brigitte Dietrich 


Wasser auch von oben: Der "Goslar Warrior"
von Henry Moore vor dem Arp Museum

Nächster Schreibtag am Samstag, 21. Oktober, 14 - 17 h im Arp Museum,
siehe: projekte/künstlerworkshops auf diesem Blog