Paris, im Juli 2019
Aggie, the Cat
Give what you can, take what you need.
Zehn Uhr, elf Uhr, dazwischen eine Stunde mit einer Gottheit auf meinem Schoß.
In Ancient Times Cats Were Worshipped As Gods; They May Have Not Forgotten This, sagt Terry Pratchett.
Der oberste Raum von Shakespeare & Company ist auf einmal mein Wohnzimmer, ich ein Teil des Inventars mit dem Privileg dieser Hoheit auf dem Schoß, mitten im Paris der Touristen und Sensationen.
Hier oben eine Insel, überflutet und durchströmt zwar, doch der literarische und internationale Schlamm gehört zu den fruchtbarsten und kostbarsten Böden, die man wohl finden kann.
Be not inhospitable to strangers/ let them be angels in disguise, steht über einem Durchgang in diesem alten, verwinkelten Gebäude.
Auf dieser Oasen-Insel kommen überall weitere kleine Inseln und Oasen zum Vorschein. Holzstühle, mit Stoff bezogene Lager, auf die man sich niederlassen kann zum Lesen, Eckbänke, eine Nische mit Piano sogar und hier, im ersten Stock, der Ledersessel neben dem Tisch am offenen Fenster. Auf dem Tisch eine Vase mit violetten und weißen Blumen. Irgendjemand sagt: oh look, a cat on the table, lavender, open window - how French can it get? Nun, das ist wohl der Blick durch die violette Frankophilen-Brille, der aus den strohartigen lila Blumen Lavendel macht und alles in betörenden Duft hüllt.
Zehn Uhr zehn.
Im Café neben dem weltberühmten Buchladen wollte man mich nicht bedienen, we are not open yet, obwohl es schon neun Uhr dreißig war, was genau der angezeigten Öffnungszeit entsprach, und obwohl schon mehrere Menschen an den Tischen ihr Croissant und den Kaffee genossen. Meine Antwort wurde ignoriert, und ich ging, wollte mir den Morgen nicht verderben.
Durch den Park nebenan rollt eine Touristenführung nach der anderen, Schläuche voller Menschen aller Kontinente werden hier ausgepresst. Zwischen den Handyfotos schnappt man ein paar Informationen auf. Da rein, da raus, wie die Fotos, wie die Menschen, welche Menschen?
Lächelnd verklärte oder gelangweilte Statisten vor steinernen Pendants, pardon, geht es doch hier allerorts um Denker, Herrscher, Heilige, in pathetische Posen gehauen, derer man gedenkt. Und ich gehöre nun einmal auch dazu, bislang auf der Seite der Statisten.
Das Croissant von Odette, dem Café hinter der nächsten Ecke des Parks, nur ein paar Schritte von Shakespeare & Company, ist köstlich und wurde mir mit einem echten Lavendellächeln verkauft.
Zehn Uhr zwölf.
Mein alter Sessel ist an der Oberseite einer Lehne schon so abgewetzt, dass er Einblick in seine Innereien gewährt. Doch selbst das wirkt gepflegt antik & how French can it get on this English speaking island. Ich kann nur ahnen, wer sich hier schon bequem angelehnt hat, den einen oder anderen Furz ließ und jenen oder welchen geistigen Erguss hervorbrachte. Über mir prangt eine Tafel mit einem Bild und Informationen zur Hauspatronin Sylvia Beach, die mich ob solcher despektierlicher Gedanken nur tadeln kann. Oder lächelt sie milde und humorvoll intellektuell?
Neben mir geht die tapezierte Tür auf, und jemand vom Staff kommt heraus. Immer wieder wird sich diese Tür öffnen und schließen, und meistens bekommt meine Schoßfreundin dann ein paar freundliche Worte mit einem Lächeln und eine Streicheleinheit en passent.
Ich frage nach ihrem Namen, den ich später auf einigen Zetteln im Nebenraum über dem Piano geschrieben sehe, und der sogar auf Wikipedia zu finden ist. Doch die freundliche Frau verrät ihn mir auch so: Aggie. Aggie, the Cat, chose my lap! Auf meiner schwarzen Parisbluse hinterläßt sie ihre Haare. Sie schnurrt und lässt sich von mir ihr prächtiges, grau-oranges, von dunkeln Streifen durchzogenes Fell streicheln, ihre langen, kräftigen, schneeweißen Schnurrbarthaare und Wimpern bewundern und überhaupt, ihre eigenwilligen Zeichnungen im geheimnisvollen Katzengesicht, weiß ums Maul, grüne Augen, distinct and mysterious. Ich streichele sie behutsam und fest, hoffe, mir ihre Gunst zu erkraueln, zu erhalten, und ich jubele mit Charles Dickens: What Greater Gift Than The Love Of A Cat? Ich zitiere gleichfalls Ernest Hemingway, der solches vielleicht sogar hier, in diesem Sessel, gedacht, gesagt, geschrieben haben mag: A Cat Has Absolute Emotional Honesty: Human Beings May Hide Their Feelings, But A Cat Does Not.
Mit der Katze auf dem Schoß werde ich angesehen wie eine Instanz, automatisch sehe ich mich selbst als eine solche und beginne, die Menschen auf das Fotoverbot hinzuweisen, sobald sie ihre Kameras zücken. Es funktioniert. Sie entschuldigen sich bei mir, oh sorry, yes, of course, nur die verwegenste Touristin sagt zu ihrer Verteidigung I did not know it’s for the cat, bevor sie das Handy zögernd zurücksteckt. Aber dann mache ich eine Ausnahme, als ein junger Vater seine kleine Tochter am Fenster fotografiert, und damit verliere ich die Lust an meinem selbsternannten Job. Was fällt mir ein? Und was bürde ich mir auf? Genug gespielt.
Zehn Uhr dreißig.
Ich habe Muße gefunden, bin mein Kopfweh losgeworden, meinen leichten Missmut. C’est moi et le chat. Zücke meine Schreibkladde und kritzele die Seiten voll mit Notizen für eben diese Geschichte. Aggie lässt sich davon natürlich mitnichten verstören oder gar vertreiben. Das hat sie mit meinem Kater zuhause auf dem Land gemeinsam. Katzen lieben Papier. Es geht mir wie Ray Bradbury: I Have My Favorite Cat, Who Is Also My Paperweight, On My Desk While I am Writing. Nur habe ich heute statt eines desks einen ganz besonderern fauteuil mit einer Favorite Cat und einem Zuhause auf Zeit, das mich für eine Stunde von meinem Touristendasein erlöst. Sehr d’accord mit dem von mir sehr verehrten Jean Cocteau, lasse ich diesen für mich sprechen: I Love Cats Because I Enjoy My Home; And Little By Little They Become Its Visible Soul.
All diese Zitate habe ich übrigens aus einem Buch, das ich vor knapp einem halben Jahr bei einem vorigen Paris-Besuch hier erstand und meinem mari zum anniversaire cinquante schenkte, zusammen mit eben dieser Paris-Reise. Voilà.
Zehn Uhr vierzig.
Ich sehe keinen Anlass, diesen Platz zu verlassen, vor allem, weil auch mon mari sich in ein Buch vertieft hat und nicht zum Gehen drängt.
Im Februar diesen Jahres, als ich zum ersten Mal Shakespeare & Company besuchte, war ich auch schon Aggie begegnet. Sie saß auf dem Schoß einer Frau wie mir, und auch ich dachte damals, die Dame sei Personal oder eine Schriftstellerin, gehöre zum geistig-intellektuellen Mobilar.
Jeder bewundert dieses außerordentlich schöne, geschmeidige und zutrauliche Tier, das sich neben seiner auratischen Katzen-Präsenz durch samtenes Schnurren und eine hohe, feine, schmeichelnde Miau-Stimme bemerkbar machen kann. Viele wollen sie streicheln, und sie lässt es geschehen. Eine Frau, Deutsche wie ich, ist sogar so übergriffig, Aggie zu streicheln, während sie auf meinem Schoß von mir gestreichelt wird. Fast berühren sich unsere Hände, kreuzen sich im Revier des Katzenfells.
Nachdem die Frau diese Grenze überschritten hat und ihrem Partner dabei von ihren Gefühlen berichtet und dass sie an ihre Katze zuhause denkt (Luder!), trauen sich auch zwei umstehende Kinder, die ihre vor Verlangen zuckenden kleinen Händchen bis dahin nur schwer zurückhalten konnten, die Katze wenigstens zu berühren. Aggie läßt es zu, und ich lasse es geschehen mit ihr in meinem Schoß. Große Güte! Einige Minuten sehe ich durch ihre grünen Augen, die mir fast gläsern, hell, aber undurchsichtig erscheinen. Höre die Sprachen, spüre das Drängen, den Vorstoß der unbekannten Energien, die Fremdheit der angels in disguise. Mein Schwanz schlägt heftig hin und her, während ich auf dem Schoß dieser Frau liege. Von der Schnauze bis zur Schwanzwurzel bin ich ruhig, zutraulich, zahm, doch hier hinten äußert sich meine Unruhe und mein Misstrauen, meine Vorsicht.
Was ist sie für eine Frau, die es sich heute auf meinem Sessel bequem gemacht hat und denkt, dass ich mir sie ausgesucht habe, dabei habe ich mir meinen Sessel erobert! Was also ist sie für eine? Nicht groß, nicht jung, hellhäutig wie die meisten Frauen, die hierher kommen. Ihr eigener Duft ist vermischt mit Creme und Parfum, wie bei allen Frauen hier. Europäerin, eher aus dem Süden als aus dem Norden, vielleicht sogar Französin. Warm und bedürftig ist ihr Schoß. Schwarze, leichte und schwerere Kleidung liegt über ihrer Haut und ihrem Duft. Ihre Schenkel sind weich und fest genug, mir als fauteuil zu dienen. Sie ist ein gepolstertes Möbel aus massivem Holz, Obstholz mit Drehwuchs, würde ich sagen, Pflaume oder die etwas sanftere Birne. Da sind Türen überall an ihr. Die dort am Knie ist geschlossen. Hier, diese mit dem Messinggriff steht am weitesten auf. Ich schlüpfe hinein... Doch das ist eine andere Geschichte. Vielleicht sogar ein Krimi?
Da ich hier in dieser edlen Company in der Kriminalbuchabteilung gefunden wurde, hat man mich in Anlehnung an Agatha Christi Aggie genannt. Das war das große Los, dass ich hier bleiben konnte! Und ich wusste wie’s geht, habe lange genug auf der Straße gelebt (aber das ist wieder eine andere Geschichte).
George Whitman, der ehemalige Besitzer, der seinen prominenten Buchladen Mistral nach dem eigentlichen Shakespeare & Company der tapferen Sylvia Beach umbennante und auch seiner Tochter den Namen der Ulysses-Verlegerin verpasste, war natürlich Katzenliebhaber. Ich bin die Nachfolgerin seiner Kitty. George hatte nach dem Motto gelebt: Give what you can, take what you need. Ich lebe es auf Katzenart: Take what you can, give what you need.
Dazu gehört auch eine Eigenart von mir, nämlich, dass ich meine Schöße protokolliere; also die, auf denen ich Platz genommen habe. Ich schreibe sie alle auf, übertrage meine Eindrücke auf imaginiertes Papier, papier imaginé, kratze, ritze, zeichne mit Geheimtinte sozusagen, ganz und gar immateriell, versteht sich.
Ich, Aggie, protokolliere nun mein Schoß-fauteuil, de 10 au 11 heurs, mercredi, le 17ième Juillet 2019. Meine Protokolle stecke ich in die Bücher, unter denen sich die Regale biegen. Doch meine Aufzeichnungen fügen ihnen kein physisches Gewicht hinzu. Überall schiebe ich sie hinein. Da war zum Beispiel die Japanerin im Blumenkleid, gestern Abend, kurz vor Ladenschluss. Tom Wolfe, page 147/ 148, glaube ich. Weiter kann ich mich nicht erinnern.
Ich lebe im Moment, mein Gedächtnis ist ein Archiv, das hier zwischen den Zeilen raschelt. Unsichtbar und undurchsichtig wie mein grüner Katzenblick.
Während ich durchs Haus streife oder irgendwo einnicke, egal, ob am Tag, während der Touristenschwemme, oder nachts, wenn ich hier alleine bin (mit den Ratten und Mäusen, by the way), flüstert es mir entgegen von den Buchrücken, den Regalen, den Stühlen, aus den Ecken und von den Fotos: Irving Stone, Viginia Woolf, Robert Hargreaves, Simone de Beauvoir, Ernest Hemingway, Allen Ginsberg, Djuna Barnes, William S. Burroughs, James Joyce, George Orwell, F. Scott Fitzgerald, Anne Carson: Float, Rumi Love Poems, Poems by Elizabeth Bishop, Montaigne (When I Am Playing With My Cat, How Do I Know She Is Not Playing With Me?), Donald Maclean: British Foreign Policy since Suez, Paradise Lost, Ezra Pound, Rimbaud: Season in Hell, Mary Oliver: Devotions, Bilingual Classical Poems By Arab Women, John Muir: Wilderness Essays, Jack Kerouac: Desolation Angels, Chinua Achebe: Africas Tarnished Names, D.H. Lawrence ...
Ach ja, bevor der Moment verstrichen ist, un moment s’il vous plaît, hier stecke ich das neuste Protokoll hinein: of Cats and Men von Sam Kalda, page 26/ 27, quotes Mark Twain: A Home Without A Cat - And a Well-Fed, Well-Petted, And Properly Revered Cat - May Be A Perfect Home, perhaps, But How Can It Prove Title?
Take what you can, give what you need.
Bye for now, Aggie