Samstag, 28. März 2020

Brücke/ Bridge

Seit zwei Wochen zuhause. Die Schulen haben geschlossen, die Cafés, Restaurants, Geschäfte, Kultureinrichtungen. Das öffentliche Leben liegt brach, weltweit. Es ist wie aus einem Science Fiction. Man soll zuhause bleiben, im Familienverbund. Das heißt mit Katze, Hund und Ehepartner im home office oder mit der Familie, der WG, aber auch alleine in einer Hochhauswohnung oder im Altenheim.
Leere Regale in den Supermärkten. Menschen hamstern und handeln panisch, egoistisch, aggressiv, oder sie zeigen Fürsorge für andere und Dankbarkeit für jene, die jetzt an der Front die Stellung halten: Ärzt*innen und Pflegepersonal, Kassierer*innen, Polizei, Müllabfuhr und viele mehr.
Ideen sprießen aus dem Boden, wie man helfen kann, um für sich selbst eine existentielle Notlage abzuwehren oder auch nur die Langeweile. Die sozialen Medien müssen nun vielfach physische Nähe ersetzen. Humor und Hass, Gier und Gemeinschaftsgeist zeigen sich neu, nicht nur im virtuellen Kosmos der Möglichkeiten.
Das Sars-Virus Covid-19, Corona genannt, hat die Welt im Griff und zwingt zu einer Generalpause.
Die Natur atmet auf, der Frühling kommt mit Macht.
Die Pandemie ist zur weltweiten Realität geworden, die sich gleichwohl abstrakt und surreal anfühlt, und deren Auswirkungen wir noch überhaupt nicht ahnen können. Alles andere ist weit in den Hintergrund der Wahrnehmung gerückt: Rassismus, Flüchtlinge, Kriege, Klimawandel, der ganz normale, globale Wahnsinn.
Wo werden wir, wird die Welt, nach dieser Krise sein?
Gibt es Hoffnung auf grundlegende Änderungen in der Gesellschaft, hin zu mehr Gerechtigkeit und Gesundung der Natur? Hin zu mehr Achtsamkeit und Bescheidenheit jedes Einzelnen vielleicht?
Es liegt an uns!

Als Kreative kann ich dankbar sein für die Auszeit. Solitäres Arbeiten kann, kenne und mag ich. Doch warum finde ich ausgerechnet jetzt keine Worte? Warum bin ich unruhig, ungeduldig und gleichzeitig gelähmt? Ich suche nach dem gewohnten Fluss der Worte, des Ausdrucks, der Transformation. Bin ich doch gesund und dankbar, auf dem Land zu wohnen, täglich durch den Wald zu gehen, mich mit Yoga fit zu halten. Doch es ist, als ob mich eine wächserne Wand umgibt, die weich erscheint, aber fest ist und undurchdringlich.

Ich möchte gerne die Zeit aufholen, sprachlich, gedanklich die Realität greifen und fassen, in eine Form einrühren, destillieren, sie fühlbar und spürbar machen. Mich mitteilen, einen Blogbeitrag schreiben. Doch die Sprache stockt. Ich bin leer.

Da kommt mir das Video passage in den Sinn, das ich nun am Ende dieses Beitrags teile. Es entstand 2017 in Lissabon im Zug während der Überquerung des Tejo.

Ich finde nur die Brücke, das Bild der Brücke, als geeignetes Symbol für das, was ich nicht ausdrücken kann.

Und da erreicht mich dieser Satz:

"Poetry can be the bridge that connects us during these difficult times".

Die chinesisch-britische Dichterin Mary Jean Chan, geboren in Hong Kong, schrieb 2017 ein Prosagedicht mit Titel: Safe Space (II). Zur Zeit wird es weitläufig auf twitter geteilt, mich erreichte es per Mail von meinen Oxforder Dichterfreund*innen.
Erst heute, nach Ausbruch der Corona-Pandemie, realisierte Mary Jean Chan, dass es ein Sars-poem sei. Denn 2003 erlebte sie die Sars-Epidemie in Hong Kong, ihr Vater war Arzt. Heute lebt sie in England, und als Covid-19 England erreichte, fehlten auch ihr die Worte zu schreiben.

Damals, als Zwölfjährige, während der Krise in Hong Kong, waren Bücher Chans Trost und sie beschloss, Schriftstellerin zu werden. Darauf ihr Vater: “As a doctor, you can cure one person at a time; as a writer, you can heal a whole society.”

Hier ein aktueller, unbedingt lesenswerter Artikel von Mary Jean Chan im Guardian, in dem sie auch den Anfang ihres Prosagedichts Safe Space (II)* zitiert:

https://www.theguardian.com/books/booksblog/2020/mar/21/mary-jean-chan-language-must-be-the-bridge-that-connects-us-


Und hier das Video, mein bildsprachlicher Beitrag:





*
... containing a door you are allowed
to lock. Lock the door, even tough the flat
is empty and there are no mouths, no doors
that let the wild things through: wild love,
wild beauty, wild hurt, wild fear, all those
beasts and your inner voice whispering
these are the options: fight, flight or freeze

Mary Jean Chan
(Flèche, Faber & Faber , 2019)


Möge Dichtung die Brücke sein, die uns auch in guten Zeiten verbindet!