Samstag, 11. November 2017

Alice, Gärtnerin III

Alice
7 Episoden

3. Episode

Vormittag im Spätsommer

Alice, Gärtnerin


 Geschrieben 2013 und 14, überarbeitet, herausgegeben
und illustriert von der Autorin im August 2017


Flach liegt Alice auf dem Rücken. Der Mond ist ein milchig zartes Gewebe am hellblauen Morgenhimmel hoch über ihr. Zwischen Himmel und Erde liegt sie, nah an der Erde, weit vom Himmel entfernt. An den nackten Stellen ihres Körpers, Händen, Armen, Waden, Füßen und durch die Kleidung hindurch spürt sie die Erde, ihre starke Anwesenheit. Der Himmel ist überall; farbige Luft über ihrem Gesicht, an ihrer Haut, doch weit oben wie ein Vogel. Der Himmel besteht aus kleinen Punkten, zieht über sie hinweg, wird höher, noch weiter weg gesogen, er fliegt und flieht. Die Erde pulst und pocht, saugt: tief, tiefer, tief.
Also, was ist jetzt nah und was ist fern?, fragt sich Alice an diesem strahlenden, wolkenlosen Morgen im Spätsommer. Sie streckt sich weiter aus, spannt ihren Rücken über dem kurz gemähten Rasenstück. Ihre Wirbelsäule macht einen Bogen. Sie spürt diesen Bogen, biegt und dehnt ihn weiter in ihrer Vorstellung, folgt ihm an einer unsichtbaren Verlängerung entlang, klettert mit ihm bis zum Horizont. Dort wölbt sich der Himmel, dort wölbt sich auch die Erde; alles wölbt sich um ein Gefäß, eine gläserne Kugel, einen Ball aus Alices sich über alle Grenzen hinaus ausweitendem Garten.
Alice steht auf, bewegt ihre Glieder, streicht sich das helle Kleidchen glatt. Schaut noch einmal in den Himmel, muss jetzt den Kopf dafür in den Nacken fallen lassen, die Locken stürzen von ihrem Scheitel herab. Die Farbe des Himmels hat etwas Fließendes, Durchleuchtetes, etwas Sichtbargemachtes.

Unsichtbar zieht sich eine Mauer um das Grundstück, umschließt es. Doktor Grau hat Alice hierher gebracht, auf dieses Gartengrundstück mit einem alten, hölzernen Ferienhaus.
Doktor Grau war der Meinung, dass sie beide Ferien bräuchten.

Von was denn?, könnte Alice jetzt fragen, doch ihre Gedanken sind beschäftigt.
Weite und Enge, Sichtbarkeit, Unsichtbarkeit, Ferne und Nähe, Höhe und Tiefe - Alice sieht diese Begriffe als plastische Gestalten auf dem Grundstück um sich herum. Sie stehen und liegen wie Steine oder Felsen; Findlinge oder Statuen: Reiter und Ritter mit Pfeil und Bogen, Fische, Nixen, Wesen.
Alice sieht mit geschlossenen Augen, sie visioniert; dabei scheint alle Schwere aus ihrem Körper nach unten zu strömen und sich an die Erde abzugeben. Sie summt vor sich hin und wiegt ihren Körper von einem Bein auf das andere. Hin und her.
Alice öffnet und schließt die Augen. Klipp klapp, sie hört ein Mühlrad Wasser schaufeln, und sie ahnt: dieses Blau dort oben am Himmel ist aus dem Wasser ihres Brunnens gemacht.
Auch wenn Doktor Grau eine Auszeit nehmen will, Ferien machen, egal wo, das magische blaue Wasser aus ihrem Brunnen begleitet Alice wie ein Gefolge.
Doktor Grau aber nimmt seine Mauer überall mit hin. Sie errichtet sich wie von selbst an jedem Ort, an dem er sich mit Alice aufhält.
Seine Mauer: poröses Gestein, unverrückbar, unsichtbar.
Was soll sich Alice um die Mauer scheren. Sie reibt ihre Handflächen aneinander, schüttelt ihre gelbbraunen, luftgefüllten Locken - ein kleiner Wind entsteht; so ist es ihr zumindest.

Doktor Grau ist nicht da, er ist unterwegs. Hat einen so wichtigen Termin, dass er seine Auszeit unterbricht. Alice macht sich an die Arbeit. Sie geht zu dem buschreichen Teil des Grundstücks nahe der Mauer. Dichte Tuja- und Taxushecken, Buchsbaum, Lorbeer und Flieder wachsen hier.
Es riecht stark, verlockend, geheimnisvoll. Alices Augen suchen das Geäst, das durch das Nadel- und Blattwerk zu sehen ist, nach Figuren und Gestalten ab. Vexierbilder, die zu ihren Gedanken passen. Sie bildet Paare und spielt Memory.
Das ist ein Spiel, aber da es mit innerer Spannung, hoher Aufmerksamkeit und Anstrengung verbunden ist, grenzt es an Arbeit. Es ist eine geistige, sinnliche Arbeit, und Alice fühlt, dass sie etwas Existentiellem auf der Spur ist. Dennoch ist ihr Spiel phantastisch und absichtsfrei. Als ob es gefährlich sei, sich den Hecken und Büschen zu nähern, geht Alice leise, fast lautlos.

Abwesende Menschen haben hier die Arbeit gemacht. Das Holzhaus gebaut, den Rasen und die Beete angelegt, Blumen gepflanzt, Büsche und Hecken beschnitten. Die Arbeiter, unbekannte Gärtner, pflegen den Garten und das gesamte Grundstück, sie sorgen dafür, dass Schädlinge verschwinden, dass nicht zuviel und nicht zuwenig wächst. So blüht nun alles nach Plan, sieht schön aus und riecht gut. Rosen, Flieder, Jasmin, Äpfel und Kirschen, alles blüht und reift zu seiner Zeit.
Mit fleißigen Händen beseitigen die Gartenarbeiter auch das ständig nachwachsende Unkraut. Ungewollte Gewächse sind hier nicht zu sehen.

Und dann ist da wieder die Katze, die eigentlich ein Kater ist. „Katze“, findet Alice, ist ein Überbegriff für diese sonderbaren, eigenwilligen Wesen. Zu diesem einen Kater spürt sie ein unsichtbares, aber starkes Band, fast schon wie einen Muskel, der sich zusammenzieht und dehnt.
Der Kater schafft es, irgendwie über die Mauer zu kommen oder auf andere Weise auf Doktor Graus Feriengrundstück zu gelangen. Er geht ein und aus. Schwarz ist er und hat gelbe
Augen, ein Kater wie aus einem Märchenbuch.
Fast unheimlich findet Alice den menschenähnlichen Blick - wie soll sie ihn beschreiben? Er beobachtet sie.
„Katze!“, flüstert Alice zwischen den Hecken hindurch, und das Tier erscheint. Treu, dennoch nur dem eigenen Willen folgend, geht er mit Alice, bis sie vor einer Hecke stehen bleibt. Der Kater lässt sich nieder, lauscht, eine Katzenfigur mit zuckenden Ohren im Spätsommerwind.

Der Mond schaut vom Himmel herab, verblassend, da der Sonnenschein an Strahlung und Intensität zunimmt, und Alice stellt sich vor, dass Doktor Graus Mauer aus dem Gestein des Mondes gemacht ist. Mit Kratern und Pickeln, aber mit einer Art Zärtlichkeit irgendwo da drinnen.
„Wahrhaft und authentisch, fern, doch immer nah“, so philosophiert es in Alices hübschem Mädchenkopf.
Sie sei „verdreht“, sagt Doktor Grau. Er meint, die kleinen Tabletten helfen dagegen.
„Wem oder wofür?“, fragt Alice das Katzentier. Die gelben Augen leuchten aus dichtem, schwarzen Fell hervor.
Die Katze streicht um Alices nackte Beine; sie ist eine Metapher für die viele freie Zeit, die auch Alice im Garten verbringen kann, für Verstand und Unverstand, absichtslosen Zeitvertreib, Betrachtung, puristische Existenz, Einsamkeit… Interesse an Kleinigkeiten und Details, Geräuschen.
Der Kater lässt sich von Alices Kinderhänden streicheln. Was für ein wunderbares Fell!

In den Hecken sucht Alice nach einem Katzenkopf, findet aber einen Henker und einen nackten Tierschädel, etwa den eines Kalbes. Sie findet Gruseliges, nicht so richtig Definierbares. Die Gestalten und Gesichter sind vom Tageslicht durchwirkt, durchdrungen, doch das Licht, befindet Alice, ist nicht in ihnen enthalten. Es scheint durch sie hindurch und hinterlässt keine Spur. Die Gestalten sind dunkel, sie bestehen aus Dunkelheit. Es knackt und kracht. Tiere in der Hecke, im Gebüsch. Zankende Vögel.

Sie hat den Kater schnurren gehört; nun ist er wieder verschwunden.
„Was tun?“, fragt sich Alice. Eine Art Langeweile legt sich um ihre Gedanken, webt sich in ihr Gemüt. „Arbeit!“, denkt sie und tänzelt zwischen den Beeten hindurch auf der Suche nach Unkraut. Doch hier ist alles tipp topp gepflegt. „Vielleicht“, denkt Alice, „kann ich das Unkraut schon in der Erde finden, wenn es also noch unter der Oberfläche ist und nach oben aufbricht. Oder ich warte auf den Herbst, bis die Blätter rot und golden auf den Rasen fallen. Das wäre eigentlich am schönsten.“ Sie hört es schon rauschen und rascheln. Ein Wunder, dass die Gärtner den dunklen Gestalten in den Hecken nicht den Garaus gemacht haben. Das könnte sie doch nun selbst versuchen! Doch weit und breit, wo sie auch nachschaut, gibt es kein Gartengerät. Alles ist weggeschlossen, spätestens seit dem Zwischenfall mit der Sichel. Kein Gärtner, kein Arbeitsgerät.

„So soll es denn regnen!“, wünscht sich Alice, und sie ruft diesen Wunsch in den Himmel hinein, biegt den Kopf wieder nach hinten und legt ihn wie den Teller einer Sonnenblume unter das bemerkenswert klare Blau des Himmels. Als sie einen Tropfen auf ihren Lippen spürt, öffnet sie den Mund.
Wasser, Wasser aus ihrem magischen Brunnen!
Es fallen mehr Tropfen, doch sie fallen nur auf Alice. Keine Wolke ist zu sehen, aber es regnet auf das Mädchen Alice herab.
Während sie das Wasser schon überall spürt auf der Haut und durch ihre Kleidung hindurch, steht die Katze mit trockenem Fell in einigem Abstand von ihr. Sie lässt sich nieder und beobachtet Alices Regen. Auch die Blumen auf den Beeten bekommen nichts ab, keinen einzigen Tropfen. Es ist Alice, als werde sie von den Blumen angeschaut; traurig, durstig, bedürftig. Doch dort, wo ihre Füße den Boden berühren, ist das Gras nass, quitsch quatsch.
„Arbeit!“, ruft Alice aus. Freudig beginnt sie nun durch den Garten zu laufen und allen darin Wasser zu schenken.
Jeden Meter, Zentimeter, Millimeter will sie abschreiten. Blume für Blume, Beet für Beet wird sie mit ihrem Regen beschenken, und in die Hecken und Büsche wird sie hineinkriechen, so dass es knistert, knackst und platscht. So lange, bis der ganze Garten satt und durchtränkt von Wasser ist.

Wenn Doktor Grau nicht etwas sehr Wichtiges zu tun hätte, mitten im Urlaub muss er dringende Verhandlungen mit einem Pharmakonzern führen, wäre er jetzt sofort zur Stelle und würde Alices Kinderquatsch unterbinden.
Doch bis zur dunklen Hecke wird Alice noch kommen vor des Doktors Rückkehr. Bis zu dem Moment, da Doktor Grau wieder plötzlich und unerwartet vor ihr steht, ist der ganze Garten von Duft erfüllt, Regentropfen funkeln und blinken auf den Blättern und Grashalmen und hüpfen in den Blütenkelchen, als wären diese Springbrunnen.

Ein Regen, da kann Alice ja nichts dafür, das weiß auch Doktor Grau, da kann er ihr keinen Vorwurf machen. Nur - warum ist sie nicht ins Haus gegangen?
Und Alice sagt, es sei so dunkel im Haus, und die Tabletten machten sie so empfänglich für diese Dunkelheit; sie habe Angst vor den Gestalten, die aus ihr hervorkämen in ihrer kindlichen Phantasie - das ganze Haus sei voll davon, vor allem, wenn sie, Alice, alleine hier sei… schließlich ist sie doch ein Kind und ein Mädchen dazu.
Und wie sie durchnässt und bleich wie Mondgestein vor Doktor Grau steht, das Haar fällt in dunklen Strähnen auf ihre Schultern herab, das Kleid ist in Falten um ihren Kinderkörper gewickelt - zittert sie etwa? -, da sieht sie vor ihren geweiteten Himmelsaugen die Vexierbilder aus den Hecken aus dem Haus herauskommen und in den Garten treten. Und dieser eine Schädel, der furchtbare mit einer Narbe wie ein Schmiss, gleicht er nicht den fahlen Gesichtszügen des Doktor Grau ganz genau, als sei er von ruppigen Gärtnerhänden und Heckenscheren aus dem düsteren Geäst geschnitten worden?
„Wer weiß“, hört Alice ein Zischen hinter der dichten Taxushecke, dort, wo die Mauer sein muss. Und sie meint, die Gedanken des Katers zu hören, der mit trockenen Tatzen dort hinten herumschleicht. Hell und heller schimmert ihr nasses Gesicht, strahlt ihre Haut, leuchten ihre Hände, ihr Leib, ihre ganze Regengestalt, als sie die Stimme des Katzentieres ganz deutlich vernimmt, klar wie die hellblaue Luft. Warm und dunkel und schön wie die Erde tönt sie: „Psst, Alice, Gärtnerin!“
Und während Alice mit Doktor Grau ins Haus geht, lächelt sie, die Gärtnerin, und meint, der ganze Garten lächele mit. 


 Eva Wal

1. Episode auf diesem Blog im Post September 2017 
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