Dienstag, 21. November 2017

Alice: A-na-kon-da IV

Alice
7 Episoden

4. Episode

Morgen im Spätherbst

A-na-kon-da



       Geschrieben 2013 und 14, überarbeitet, herausgegeben
       und illustriert von der Autorin im August 2017
 

Alice tritt vor die Tür und lauscht. Der Himmel ist grau, die Wolken hängen tief; ein Katzenfell, flauschig, aber kühl.
Der schwarze Kater ist schon seit einiger Zeit verschwunden. Wochen? Tage? Stunden?
Alice ist die Zeit wieder einmal entglitten. Sie hat sich aufgerippelt und um sie geschlungen wie der lange Faden eines Jäckchens, das nur aus einem einzigen Faden gehäkelt wurde.
Alice ist es, als habe sie lange Herbststunden in Doktor Graus Haus gesessen und gehäkelt, während sich draußen das Laub verfärbte, die Kastanien rund und braun wurden und mit lautem Klacken von ihren Bäumen fielen. Sie hat an ihrer Zeitjacke gewerkelt.
Nun tippelt sie im Freien herum; ist aus der Tür getreten nach langer Zeit. Dort, wo die Blätter nicht zu braun-gelb-roten Haufen zusammengerecht wurden, bedecken sie den Boden mit einer glitschignassen Schicht.
Die Luft strömt um Alice in einer festen, klaren Bewegung. Eine Luft mit Muskeln. Eine Schlange. Groß und muskulös legt sie sich um Alices Schultern.
Alice atmet laut. Ein verspäteter Schmetterling wird durch die Luft getragen, schlägt mit rotsilbrigen Flügeln.
Alice schnauft. Die Luft ist kalt.
Doktor Grau ist tot, wünscht sich Alice.
Sie weiß nicht mehr, sie hat vergessen, was sie so gegen ihn aufbringt. In dem Moment, in dem es ihr gelungen ist, die schwere Tür aus massivem Holz mit einer mächtigen Türklinke aus Messing zu öffnen - die Klinke herunterzudrücken, die in sehr ungeeigneter Höhe für Kraftausübung durch eine zarte Mädchenhand angebracht ist, und die Tür mit aller Kraft nach vorne zu dabei wegzudrücken - in diesem Moment hört sie sich mit einem gewaltigen Brausen im Kopf denken: Möge er sterben, jetzt, sofort!
Alice sehnlichster Wunsch schwillt an zu Schlangenstärke.
Inmitten des Wunsches tönt ein Rauschen, ja Musik, wie von tausend Pfeilen. Schlangengift in den Pfeilspitzen. Die Luftschlange aber ist eine Würgeschlange.
Alice bewegt ihre schmalen Schultern. Zarte Knochen, knarzend wie Schiffsplanken. Alice in ihren Gedanken auf hoher, schäumender See.
Auf ihren Schultern hebt und senkt sich die große Schlange Luft.
Alice flüstert: Schschschhhhh...

Ich fühle mich wohl im Haus, und die Katze hat Telleraugen

So etwas dichtete Alice in den frühen Morgenstunden.

Der Schmetterling schlägt mit betäubten Schwindelflügeln, silberrotsilbern im Nebelgrau

Undsoweiter.

Tigerregen,
klangvoller Stillregen

Das Haus Grau ist groß und ungemütlich

Es kann ewig so weitergehen mit ihrer Dichtkunst.

Doktor Grau hat irgendeine fiese, scheußliche Krankheit erwischt. Alice hört ihn husten durch die offen gebliebene Tür, da drinnen im dunklen Haus.

Meine Zähne knirschen, mein Kiefer: Ich bin ein großes Tier

Alices Dichtkunst versus Doktor Graus Existenz. Wie konnte er, der Pillendoktor, nur krank werden - so krank?
Doktor Graus Pillen kaputt.

A-na-kon-da,

stottert Alice, als würde sie diese Lautfolgen das erste Mal sprechen.

Ana- kon- da
An- akond- a


--- egal. Satzzeichen versus Lebenszeichen.
Doktor Grau, stirbt er?

Alice steckt den Zeigefinger ihrer linken Hand in Doktor Graus Bauch. Er sinkt ein wie in Torf. Ekel steigt darauf in Alice hoch, der Torf Grau stinkt faulig.

Alice lacht über ihre Phantasien.

Aaaa – na -kooon – da,


keucht sie in die Luft.

Durch die offene Tür wälzt sich nun die Würgeschlange hinein ins Haus. Sie schiebt sich in die Türöffnung und drückt die schwere Tür weit auf mit ihrer Masse, ihrem gewaltigen Gewicht nur aus Luft.
Gefahr! Gefahr für Doktor Grau, der ohnehin schon krank danieder liegt und sich nicht rühren kann.

Doktor Grau liegt auf dem roten Ledersofa seines Wohnzimmers in der luxuriösen Jugendstilvilla. Er hat Schaum vorm Mund.
Alice hebt an zu einem lyrischen Vogelgesang. Ihre Vogelstimme schwillt an und steigt auf. Perlmuttfarbene Wölkchen schweben über ihr. Alices Gesang ist eindringlich, doch ihre Worte bleiben unverständlich, verschluckt vom Kehlklang.
Alles ist... doktorgrau.

Der Kater ist immer noch abwesend.

Doktor Grau röchelt auf seinem roten Ledersofa. Alices Hirn spuckt blutige Bilder. Rauchende, fauchende Visionen nehmen Besitz von ihrem Geist. Ein seltsames Kauderwelsch entgleitet ihr, fällt aus ihrem Mund, während die Schlange sich über das schwarzweiße Schachbrettmuster des Marmorbodens vorarbeitet zu Doktor Graus Sofa. Der erschöpfte Doktor ist nicht mehr bei Sinnen; er ist ohnmächtig geworden. Ein Diener, ein Helfer, ein Arzt wird kommen und auch nicht wissen, was zu tun ist.
Doktoooor,
erklingt es aus einer Kehle mit Hall, und es kann ja nur Alice sein.
Das Mädchen ballt nun die Fäuste, drückt und presst sie gegeneinander. Ihre Haut scheint hell zu strahlen, titanweiß.
Sie wünscht den Tod herbei, den grausamen Tod für den Tyrannen, der sie gefangen hält!
Fast, fast hat sie es geschafft!
Doktor Grau bäumt sich auf, Schaum quillt aus seinen Mundwinkeln, kleckert auf das rote Leder. Kotze pladdert auf den kostbaren, persischen Teppich unter dem teuren Sofa. Alice hört angespannt zu.
Nein! All das Gift raus! Nein!, empört, ja entsetzt sich Alice, und der Diener, der plötzlich da ist und Silberkelche aufstellt für Doktor Graus schaumiges Erbrochenes, meint, das zarte Mädchen, zu Doktor Grau gehörig, drücke seine Sorge und Verzweiflung aus und vergehe vor Angst um ihn, ihren Herren!

A – N-A-- K o...

fleht Alice die Schlange an. Doch ist sie nur eine Luftschlange. Und nun löst sie sich in Schwaden auf.
Der Diener hat die Tür geschlossen.
Nebel draußen vorm Fenster, aufsteigend aus den dunklen Wiesen vor Doktor Graus Haus.


Eva Wal

1. Episode auf diesem Blog im Post 11. September 2017 
2. Episode auf diesem Blog im Post 24. Oktober 2017
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