Jubiläum im Café Blau
Leise und beständig rieselt Kunstschnee über den Plastiktannenbaum in der Plexiglaskiste auf der Theke. Zwei kleine, rote Kugeln blinken synchron mit dem gelben Stern auf der Spitze. Von komplementärfarbenen LED-Strahlen beschossen glänzen blaue Hirsche aufgereiht im Regal dahinter. Auf meiner Trinkschale kringelt sich Sprühsahne, eine weiße Python.
Familienurlaub mit kleinen Kindern, am Brunch-Tisch neben mir erzählt man sich von kleinen Abenteuern im Schnee.
Ich halte meine Trinkschale in beiden Händen. Auch in diesem Café wird der Kakao nur mit Wasser gekocht. Dafür wurde reichlich Kakaopulver hinein geschüttet, hat sich aufgelöst unter der Sprühsahne, die ich schon weggelöffelt habe. Zart wie Schneeflaum zerging sie auf meiner Zunge und schmeckte nach nichts, hinterließ einen leichten, fettigen Belag. Kein Geschmack, aber Schneegefühl im Mund.
Ich löffele, rühre und schlürfe das dunkel gefärbte, gerade noch warme Wasser mit trüben Schneeresten auf der Oberfläche. Das bißchen Zucker macht mich zufrieden, das Geschrei eines Kindes am Nebentisch wird sicherlich gleich aufhören. Ich halte die Zufriedenheit an wie Luft. Betrachte den Kakaorest an der Innenwand der Schale.
Ein Muster wie von Erd- und Gesteinsschichten, mit kleinen, braunen Klumpen versehen wie Felsbrocken oder Krater. Meine Gedanken reisen in die Rocky Mountains, doch das Sologeschrei ist nun ein Duett und richtig laut.
Die Phantasiereise und Zuckerzufriedenheit anzuhalten wird zur mentalen Übung - was kommt schon gegen Kinderschreien an? Gebt ihnen Zucker, Sahne und Glitzer!
Ich zähle die blauen Hirsche und es sind zwei mal zehn auf zwei weiß lackierten Regalbrettern untereinander. Aufmerksam zur Seite gerichtet stehen sie auf Silbergirlanden zum Sprung bereit, gleich, jetzt, jeden Moment. Zwanzig blau strahlende Hirsche springen durch die 0, den Papierreif der goldenen Zwanzig, die schräg über ihnen von der Decke hängt.
Nach Ablauf des Jubiläumsjahres wird die 0 verschwunden sein, also springt, Hirsche, springt! Eure Zeit ist endlich wie die des Schnees und der Sahne-Python, des Kindergeschreis und der Zuckerzufriedenheit.
Nächstes Jahr ist 2020. Ich wünsche mir zwanzig springende Fische und zwanzig tauchende Eisbären im Café Blau.