Mittwoch, 3. April 2019

Vincent van Gogh schreibt einen Brief an Arno Stern


Lieber Herr Stern,

auch hier im Jenseits spricht man von Ihnen, Sie haben es zu einiger Berühmtheit gebracht. Das mag nicht verwundern, weile ich doch hier bei den Gestirnen und Sternen, zu denen Sie offensichtlich nicht nur dem Namen nach gehören.
Sie leuchten in fast absolutistischem Glanz, Herrscher und Verwalter der Formulation, deren Zeuge sie wurden. Ihr Auftrag ist groß; von hier aus dem Jenseits sehe ich die Dimension, welche zu sehen den noch nicht Jenseitigen verwehrt ist.
Meine Sterne drehen und vibrieren noch immer. Ihnen natürlich ist klar, dass das ihre Aufgabe ist und in keiner Abhängigkeit oder Begrenzung steht zu einem Einzelnen wie mir, der dies zu zeigen vermochte, bannen konnte mit Ölfarbe auf den profanen Grund einer Leinwand im hölzernen Rahmen.
Wir drehen uns, wir, die Erddiamanten und Kartoffelesser. Die Strahlenden, die Dunklen, von den Fürsten zu den Bauern, den Außenseitern und Verlorenen.
Wir alle tragen dieses Wissen in uns noch als Spur oder Gespür. Bei manchen verursacht es einen regelrechten Schwindel im Leben.
Hier oben aber, das darf ich Ihnen verraten, gibt es keinen Schwindel. Höchstens befällt mich ein Gefühl der Ohnmacht, das dem Schwindel im Suff, im Absinthrausch, gleicht, wenn ich in das mir gewidmete Museum in Amsterdam blicke und mich dort im Shop und von täglich tausenden Selfie-Jägern geschändet sehe. Ich wende mich ab, denn ich weiß, das Drehen und Vibrieren kann zwar verraten werden oder ignoriert, doch es kann niemals verlöschen. Nichts kann dem kosmischen Drängen und Treiben wirklich schaden. Die Menschen, diese Schädlinge, schaden nur sich selbst und, leider, diesem Planeten, der ihnen als Lebensraum geschenkt wurde.
Ach, es ist kalt hier, und ich möchte gerne mit Ihnen sprechen.
Es gibt einige, mit denen ich gerne spreche. Allermeistens sind es Kinder. Manchmal klettere ich nachts in ein Schlafzimmer und lasse die Sterne an den Wänden des Kinderzimmers kreisen.
Auch bei Ihnen im Malort war ich schon oft, Sie ahnten es. Ich kreise und treibe mit den Kindern und sie mit mir.
Machen Sie sich also keine Sorgen, Herr Stern. Sie meinen, der Malort hätte mich vor dem Selbstmord gerettet und mein Leid verhindert. Mag sein, aber es ist müßig, darüber nachzudenken.
Ihr Malspiel in allen Ehren, ich aber will nicht verzichten auf meinen Perspektivrahmen, das Versinken in Betrachtung japanischer Holzschnitte, das Malen von Angesicht zu Angesicht mit meinen Modellen, ihren Körpern und Gesichtern, und auf das völlige Eintauchen in die Landschaft mit Staffelei, Farbe und Pinsel. Ich möchte das Wetter spüren, Sonne, Wind, Hitze und Kälte, will die Felder riechen, spüren, wie das Schwarz der Zypressen nach mir greift, das Gelb der Weizenfelder sich meiner Seele bemächtigt und das Blau sich ins Unendliche dehnt über mir oder zu meinen Füßen in einem Fluss in die Ferne zieht, verstrudelt mit Grün und Orange. Unmittelbar möchte ich auf die Leinwand werfen, was mich befällt.
Ich habe meine Bilder der Welt zugeeignet, denn das entspringt meinem Wunsch und Bedürfnis, meiner Liebe. Dass die Nichterfüllung dieses Wunsches, dieser Sehnsucht, zu meinen Lebzeiten die Ursache für mein Leiden war, ist Ihnen bekannt.
Manche Menschen glauben, dass ein großer Künstler leiden muss. Mag sein, dass es großen Künstlern nicht vergönnt ist, verstanden zu werden, aber ich bezweifle, dass daraus die Größe und das Schaffen erwächst. Das eigentliche Schaffen kommt nicht aus dem Leid, sondern aus dem lebendigen Kosmos, selbst wenn das Werk eingekleidet ist in Äußerungen des Leidens. Und unverstanden zu sein, ist das Los aller Menschen, egal, als wie bedeutend oder unbedeutend sie gelten. Die Bedeutsamkeit des Leids schreibt man auch nur jenen zu, die vermeintlich etwas daraus erschaffen. Man verehrt es hier, um dort die Masse der Leidenden unbekümmert vergessen zu können. Es ist eine religiöse Erhöhung, die wiederum für die Vergessenen nutzbar gemacht wird als Projektionsraum für ihre Bedürfnisse. Das alles sind Komplexe und Konstrukte, die hier oben keine Rolle spielen. Hier oben, ich sage es laut, gibt es keinen Herrgott und auch keine Heiligen. Es gibt nur das Rauschen, Dröhnen, Vibrieren und Kreisen der kalten Gestirne. Nennen sie es kosmischen Gesang, wenn Sie wollen.
Zurück auf die Erde, zu Ihnen, zum Malort. Für mich wäre er eine Erholung gewesen, eine Enklave zur Regeneration, Trost und Erleichterung. Und es ist möglich, dass ich ganz zur Abstraktion vorgedrungen wäre, den Perspektivrahmen und die Porträts überwunden hätte.
Ich bin froh, dass es nicht so war. Denn mein Werk sollte so geschaffen sein, wie es ist. Dieses und kein anderes war meine Aufgabe im Leben. Mein Werk ist in der Welt und lebendig. Es steht denen zur Verfügung, die sich berühren lassen vom Strudeln der Sterne, da etwas Berührbares in ihnen ist wie ein Kern, der nur einen Tropfen Wasser benötigt, um aufzuspringen, zu keimen und ins Leben zu drängen. Selbst, dass die Farben meiner Bilder nicht mehr so sind wie zu meinen Lebzeiten, tut dieser Sache keinen Abbruch, denn das unauslöschliche Kreisen der Gestirne ist in ihnen enthalten.
Wäre ich in den Malort gekommen zu meiner Zeit, ja, dann hätte ich vielleicht länger und glücklicher gelebt, doch heute, verehrter Herr Stern, wäre ich auch schon lange tot. Und das Leid und alle Eitelkeit, das kann ich Ihnen versichern, sind hier oben vergessen. Die Nacht, das edle Dunkel, befreit uns Gestorbene von allen Widrigkeiten des Erdendaseins. Glauben Sie mir und freuen Sie sich darauf. Wenn Sie ihre Aufgabe erfüllt haben, und sie haben sie bereits fast erfüllt, sehen wir uns hier oben.

Von Stern zu Stern,

                        Ihr Vincent


Im Februar habe ich die zehntägige Intensiv-Ausbildung bei Arno Stern in Paris durchlaufen.
Dieser Text ist eine Hommage an die beiden Protagonisten und eine persönliche Reflexion im Nachgang zu diesen erkenntnisreichen zehn Tagen bei Herrn Stern.
Eva Wal

Paris, Februar 2019