Sonntag, 21. Februar 2021

Geläute


Der Künstler trägt die Zeit nicht, zwischen zwei Deckel gelegt, bei sich an einer Kette; er richtet sich nach dem Zeiger des Universums, weiß darum immer, was die Urkuckucksuhr geschlagen.


Else Lasker-Schüler





In diesen besonderen Zeiten, im Griff eines "Lockdowns", an den wir uns mehr wohl oder mehr übel gewöhnt haben, genießen viele Menschen das Privileg, im Alltag so viel wie noch nie spazierengehen zu können - und tun dies auch. 

Nichts verändert die Zeit. Wir verändern uns in ihr und verändern unsere Umwelt. Die Wahrnehmung, die Empfindung ändern sich, und wir altern. Die Zeit aber fliegt dahin, alterslos durch Rhythmen und Zyklen, den Lauf der Dinge: Tage, Nächte, Jahre, Jahrhunderte, Jahrtausende. Stunden und Sterne, Wolken und Wetter. Das Wachsen und Schmelzen des Mondes, Sterben und Neubeginn. Der Schlag eines Zitronenfalterflügels über einem Grashalm. Wieder Frühling.

Auch ich gehöre zu den Spaziergängerinnen in diesem Januar und Februar, ganz unabhängig von der allgemeinen Situation. Zeit-Gedanken schweben mir zu auf meinen Wegen. Säuselnd durch die Baumstämme hindurch, vom Himmel taumelnd im Schneeflockengewirr. Auf den Wegen liegen sie gefroren, dann tauend. Sie krachen durch die Zweige und rascheln davon wie Eidechsen auf heißen, trockenen Winterplaneten. Da fand ich die Zeit schwindsüchtig, konfus; gesiebt, verstreut, verstrichen. Meinte sie diebisch wie eine Elster auf den Tannenzweigen zu ertappen. Dann strahlte sie gegossen in ein goldenes Geweih am Waldrand, stand und floh ins Dunkel. In Wind und im Wasser rauscht, raunt und gurgelt sie, die zeitlose Zeit, die doch immer fließt, sich erneuert in jedem Tropfen, und nie gleicht ein Tropfen dem nächsten.

Alles fließt, πάντα ῥεῖ, so sagte schon Heraklit: man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen, denn der Fluss ist nicht derselbe, und ebenso ist der Mensch niemals derselbe im nächsten Moment ... ein ewiges Werden und Vergehen.






In einem Zettelkasten meines Vaters fand ich gesammelte Zitate, einige über die Zeit, hier zum Beispiel von Gottfried Keller, der er so sieht:



Ob gehend oder stehend, stampfend, rollend oder auf leisen Sohlen,
unsere Zeit wird symbolisch sichtbar durch einen Zeiger, hörbar durch Glockenschläge, und in der Musik gibt ein tickendes Pendel das Zeitmaß, den Takt, an. Innerhalb dieses Gleichmaßes bewegt und fließt die Musik.

In diesen Zeiten mussten wir in vielen Dingen ein paar Gänge zurückschalten, vom Presto oder Allegro zum Andante oder Largo.
Hier entspricht ein Pendelausschlag einer Sekunde: Tick-tack-tick-tack.
Doch was geschieht darinnen, in den Zwischenräumen, den Parallelwelten? 

Hier ein Largo aus meinem Archiv zum Pendel des Universums: