Donnerstag, 6. Juli 2023

Kaktozähn


Mein Lieblingscafé schmückt sich mit Blumen rundherum, doch sie sind alle tot. Verbrannt, gelb oder fast farblos stecken sie in knochentrockener Erde. Als müsste ich es noch beweisen, nachträglich den Eintritt des Todes dokumentieren, lege ich meinen Finger in einen der schmalen Blumenkästen auf die Erde. Trocken und hart, das ist eigentlich gar keine Erde mehr. Es sollte wehtun, den krümeligen, festen Staub zu berühren. Und die Pflanzen, einst Bauernnelken, sind keine Nelken mehr, sondern Menetekel für Cafébegrünungsabsichten. Und die Mitarbeiterinnen des Cafés sind eben keine Bauern oder Bäuerinnen, sondern Städterinnen, die eine klimafreundliche und nachhaltige Idee hatten, als sie das Straßencafé mit Paletten eingrenzten und diese bepflanzten, ebenso die Fensterbretter zur Straße. Fancy Grün mit netten Farbtupfern. Doch leider nicht klimasicher, wahrscheinlich reichte ein Ruhetag, um die feine Pracht auszudörren. Ich stelle ja schon in meinem Gartenteich binnen weniger Tage, an denen es noch nicht einmal besonders heiß ist, eine drastische Absenkung des Wasserspiegels fest. Viel Ozon in der Luft, lese ich. Heute ist es ausgesprochen kalt, mitten im Hitzesommer. La Niña und El Niño, das Yin und Yang der Klimakatastrophe. Ich frage mich, ob hier im Café noch jemanden außer mir der Anblick toter Blumen und was damit zusammenhängen mag beschäftigt.
Ich sitze am Fenster zur Straße. Die Zuckerdose trägt das Bild eines blau blühenden Enzians auf edelweißer Glasur mit feinem Goldrand. Es wirkt wie melancholisch-froher Gruß aus der Vergangenheit. Die Bedienung stellt ihn neben meinen schon leeren Latte Macchiato. Der Enzian grüßt herüber zu einem großen Kaktus in der Ecke. Der scheint sich hier wohlzufühlen, durchaus klimasicher und also zukunftssicher. Hellgrüne runde Blätter sprießen aus seinen Stacheln, oder sind das Angst- oder Geiltriebe, die durch Lichtmangel entstehen? Als ich das Café verlasse, sehe ich noch mehr verschiedene Kakteen. Die einzig Überlebenden draußen auf der Fensterbank und drinnen im Gang sind Kakteen. Natürlich!
Vorsichtig strecke ich meinen Finger aus, um die frischen Blätter des Kaktus hinter der Zuckerdose zu berühren. Ob sie echt sind oder doch aus Plastik? So genau kann man das gar nicht sehen.