Montag, 26. Juni 2017
Schwester Wasser
Ich ströme, fließe, gehe
mit dem Wasser;
der Himmel an die Weiden gedrückt,
die Weiden kniend am Horizont,
der Horizont das Ufer
Das Ufer aber begrenzt das Leben, dieses
eine, endliche Leben, diese vielen einen,
unendlich einen Leben; die Lebendigen und
gewesen Lebendigen
*
Die Glocken schlagen von beiden Seiten der Ufer,
leicht versetzt der Wind den Ton
Wie eine Schwimmerin erreicht der Glockenklang
das jeweils andere Ufer und
uns, die wir am Abend über den Deich gehen zwischen den
Glockenschlägen hindurch
In der Mitte rauschen die hohen Bäume wie zur Besänftigung
und zur Bestätigung einer anderen Zeit; der Zeit des Fließens,
des Strömens und des Rauschens
Auf dem Dach des Gasthauses sitzt die Amsel und singt
ein betörendes Begrüßungslied
Nach Sonnenuntergang übernehmen die Frösche das
Konzert zur Huldigung der nächtlichen Schwester Wasser
*
Erinnerung
oder die Glocken von Niederaltaich
Blechern, hoch tönend und tief singen und schlagen die
Glocken von Nierderaltaich die Zeit
Sie sitzen in meiner Erinnerung wie am Grunde eines Brunnens
Durch unsere Mitte strömt ein Fluss
Unser Brunnen steht versunken am Grunde des Flusses
Wir schöpfen erst, wenn der Fluss davongeströmt ist
*
Am Rande des Strömens
habe ich ein Nest gefunden
Jemand hat es gebaut für ein Wesen wie mich,
Freundin des Kirschbaums nebenan, Verwandte
des hohen Grases, Wanderin von den Bergen kommend
mit einem Vogellied und Sehnsucht im Herzen
Ein blauer Vorhang weht am offenen Fenster
und bringt mir das warme Winden an mein Bett
*
Der Himmel öffnet und schließt sich
Das Wasser wölbt sich weit
Wolken im Kirchturm gefangen
Gedanken ertappt,
barfuß im hohen Gras
Licht hinter den Bergen,
einzelne Bäume kommen auf mich zu
Alle wiegen sich in Langeweile
Das Gartengemüse schläft in Reih und Glied
Ich beziehe eine Dachwohnung in der
Schiffsbauergasse, mit Rosen auf dem Giebel
und Johannisbeeren unter meinem Kissen
Mit Bullaugen schaue ich durch das grüne Wasser
im Schlaf
Dort drüben ist die andere Seite
Die Texte und Zeichnungen entstanden bei einem Aufenthalt an der Donau, Abtei Niederaltaich, im Juni 2017.