Samstag, 15. Juli 2017

Die Prozession


Gerade riecht es nach Pferdeapfel und Sauerkraut. Ein leichter, fast verbotener Dunst durchweht das ansonsten stets von Unwillkommenem gereinigte Dorf. Die zwei Pferde auf der Koppel, die sich fast nur durch die Farbe des Grases vom glatt gefegten Dorfpflaster unterscheidet, haben die Ohren aufgestellt. Aufmerksam scheinen sie den Gebeten und Gesängen vor dem Elektrozaun zu folgen. Der Kirchenchor erklingt in sanfter Kakophonie zu den Kirchenglocken, die mitten in den Gesang hinein schlagen. Sie müssen eben die Uhrzeit verkünden zu jeder Viertelstunde und können keine Rücksicht nehmen auf die sorgsam einstudierten Akkorde mit den durchaus anspruchsvollen Harmonien der Fronleichnams-Liturgie. Höchstens ein oder zwei Frauenstimmen stehen klirrend hervor in den oberen Lagen. Ich erkenne die vorbildliche Sorgfalt und Sauberkeit, die hier in diesem Ort überall zu schalten und zu walten scheint, als habe der Herrgott den Menschen in Niederalteich ein besonderes Gen gegönnt.

Von den vier Geistlichen in schwarzen Talaren habe ich zwei schon gesehen. Den großen, breitschultrigen, aber schlanken Bruder mit dunkler Hautfarbe, Brille, Bart und grauen Locken und den Jüngeren hinter ihm, neben einem kleinen Dicken mit fromm nach vorne abgeknicktem Halse stehend. Der Jüngere ist ebenfalls groß und schlank, fast hager, und auch er trägt Brille und Bart. Dieser Bart aber ist lang und dünn, spitz zulaufend und nach vorne leicht abstehend.
Neulich habe ich dem Bruder von meinem Lieblingsplatz am Brunnen im Klosterhof aus zugesehen, wie er einen Tannenbaum beschnitt. Er trug Shorts und T-Shirt und stand mit einer Leiter und einer großen Baumschere am Baum. Vor jedem Schnitt ging er einige Schritte rückwärts, immer den Baum im Blick behaltend und ihn teilweise dabei umrundend, um das Gesamtbild nicht aus den Augen zu verlieren. Die Tanne war nur um etwa die Hälfte größer als der Gärtner und glich in ihrer Form seinem Bart. So, dachte ich, könne dieses Unterfangen schon gar nicht misslingen.

Nun ist das Gebet am ersten Altar der insgesamt vier Altäre der Fronleichnams-Prozession, jeder in eine andere Himmelsrichtung zeigend, beendet, und Böllerschüsse werden abgefeuert. Die Pferde reagieren nur leicht unruhig. Eines, das Mokkafarbene, Helle, könnte ein Norweger oder ein Wildpferd sein. In der Mitte seiner wie eine Bürste hoch stehenden Mähne trägt es noch die Wildpferdezeichnung, den dunklen Strich in Fortführung des Rückgrats. Stolz und friedlich sieht es aus, wie es da mitten im Dorf auf seiner raspelkurzen Weide steht. Ich glaube fast, es hat sich selbst frisiert! Ein Wildpferd mit bayrischem Gen?
Wo ist denn das Wilde? Das Bunte, das Unterschiedliche? Freundlich ist es hier, oft werde ich auf der Straße und sogar auf den Balkon meiner Pension hinauf gegrüßt, ruhig ist es und sauber. Und nichts will die Ruhe stören?
Auch ich suche Ruhe hier; ich genieße die Sauberkeit und Ordnung und will nicht gestört werden in meinen Betrachtungen und bei meinen Aufzeichnungen. Doch dann und wann bringt mich diese Ordnung durcheinander. Ich schüttele meine Mähne und trabe davon, ans Ufer. Ans Ufer dieses breit fließenden Flusses, grün und weiß glitzernd wie der Strassschmuck auf den Steinen in den Gärten und auf den Gräbern im Ort. Aber nein, es sind funkelnde Reflexionen des Sonnenlichts! Hier wohnt Schwester Wasser mit ihrem langen Uferhaar, den hoch stehenden Gräsern mit Wiesenblumen darin, die sich frei im Wind wiegen. Jeden Monat versammelt man sich hier an diesem Stein zum Donaugebet, auf dem eingraviert zu lesen steht: Gelobt seist Du, mein Herr, durch Schwester Wasser… Und darunter: Sonnengesang Hl. Franziskus.

Die Blaskapelle spielt. Die Prozession bewegt sich weiter, dem Ufer zu. Die Mädchen und Jungen in weißroten Ministrantengewändern gehen neben dem Diakon vor dem gold verzierten Baldachin aus schwerem Brokat her, neben dem der Abt mit goldenem Stab schreitet. Doch zuerst kommen die Vereine, die Freiwillige Feuerwehr und die „Schnupfer“, alle im Gleichschritt und mit ernster Mine. Gut Flug steht auf dem Schuppen des Taubenzüchters am Weg. Hier sitzen überall die schlanken Brieftauben, und das Gurren dringt aus jeder Ritze nach außen. Auf der dunkelvioletten Samtfahne der „Schnupfer“ ist neben einer entsprechenden Illustration zu lesen: Nehma Uns A´ Frische Pris. Das hat wohl gerade einer getan. Plötzlich ertönt so ein lautes, unbändiges Niesen, dass alle Tauben, die nur an die Böllerschüsse gewöhnt sind, auffliegen und zum Gleichschritt der Blaskapelle davonflattern. Im Schnabel halten sie das Niederalteicher Gen, das sie nun in alle Welt tragen wollen.

Doch erst fliegen auch sie zum Fluss, wo schon die mit Pappelzweigen und Blumen üppig geschmückte Donaufähre auf die Ankunft der Prozession wartet. Endlich erreicht diese singend und schreitend das Ufer. Die Kirchturmglocke hat wieder geschlagen, der Diakon besteigt mit seinen Ministranten Weihrauch schwenkend die Fähre, die daraufhin ablegt und nur ein paar Schritte vom Ufer entfernt direkt in der Strömung stehen bleibt. Der Herr Jesus könnte das bequem zu Fuß gehen. Nun hören wir alle die Worte des eben genannten Jesus aus dem Munde des Diakons, verstärkt durch nur selten knacksende und rauschende Lautsprecher, die ein Ministrant an einer Gürtelkonstruktion um den Körper gebunden trägt. Es scheint, dass gerade wir, Wildpferde und Brieftauben, besonders mit angesprochen wären und uns wieder unserer Natur besinnen sollten.
Seht ihr die Vögel auf dem Feld? Sie säen nicht, sie ernten nicht, und der Herrgott ernährt sie doch. Und seht ihr die Lilien auf der Wiese? Kein König hat ein so prächtiges Gewand wie sie… Doch da, als der Pfarrer geendet hat, ertönen die Böllerschüsse aus einer echten Kanone vom Ufer, und bald setzt sich die Prozession wieder in Bewegung und geht wieder zur Kirche, um dann endlich den Feiertag zu feiern mit reichlich Bier und Wurscht und einer guten Prise zum Klosterlikör. Die Brieftauben aber kehren in ihre Verschläge zurück und lassen das Niederalteicher Gen wo es hingehört, nämlich hier an diesen Ort, und ich…? Ich schüttele die Mähne und trabe davon, flussabwärts mit dem Lauf der Donau und dem wehenden Haar von Schwester Wasser.

Niederalteich, Juni 2017