Sonntag, 28. Dezember 2025

Das Gänseliesel-Café in Göttingen

 

Der Raum ist voller Reden und Schwatzen. Es sind Menschen, Leute, Personen; eine Gattung, eine Spezies, die isst, trinkt, schwatzt oder ruft - wie die Kinder, die sich unterhalb des Cafés im Riesenrad amüsieren. Es ist ein kleines Riesenrad, etwa ein Zwergen-Riesenrad; ich lese die Nummern eins bis acht an den gemütlich schaukelnden Kabinen. Der Rahmen ist mit leuchtenden Glühbirnen besetzt, wie mit Knöpfen. Das Rad hält an, alle Kinder raus, kurz drehen sich die Kabinen, als würden sie erleichtert ausatmen und auspendeln, dann füllen sie sich mit neuen Kindern. Freudig gelassen schaukeln sie vorwärts und rückwärts auf der Fahrt, die einen vertikalen Kreis in die Luft malt. Eine indische Gottheit, der achtarmige Shiva im Weltenrad bei der Morgengymnastik; aufrecht, immer schön locker in den Gelenken.

Immer neue Kinder nimmt er auf für ein paar Runden an seinen Götterarmen.

Hier oben, etwa in halber Höhe dieser Weihnachtsmarkt-Attraktion und mit direktem Blick auf sie, sitze ich im beliebten Gänseliesel-Café. Hier trifft sich am Montagmorgen die ältere Generation zum Frühstück. Es ist gemütlich und riecht nach warmem Kaffee und Kakao, Waffeln, Vanille, Sahne und Zucker, wenn man letztere riechen könnte.

Auch die Älteren sind aufgeregt, angeregt, ihre Stimmen nicht mehr so hoch und schrill; tiefer, ruhiger, als würden sie im Laufe des Lebens allmählich zur Erde sinken. Doch es liegt eine Fröhlichkeit zwischen den Tischen und in den Gerüchen und Stimmen; man könnte meinen, die Stimmen dufteten nach Vanille und Sahne, und der Kaffee-Geruch klänge nach Geschwätz und Gelächter.

Rotweißkarierte Vorhänge bedecken die oberen zwei handbreit der Fensterreihe, leicht gewellt, gerüscht. Darunter halb verblichene Weihnachtsaufkleber an den Scheiben und Schmuck: Herzen, Sterne, einige Tassen und Weingläser kopfüber aufgehängt.

Geschirr klappert, das Riesenrad summt, nur noch eine Kabine ist besetzt, der Andrang vorbei. Neue Menschen kommen durch die Tür, betreten das Gänseliesel-Café. Mit beschlagenen Brillengläsern treten sie an den Nachbartisch, begrüßen die Bekannten.

Das Café ist im Halbrund an die Kirchenmauer geschmiegt, welche man durch die Scheiben hinter der Theke sieht. Neben dem Ausgang drehen sich die Kuchenplatten einer Étagère horizontal, ein einsames Kuchenstück fährt mit. Dreht seine Runden neben Shivas blinkenden Armen, an denen die Kabinen nun schaukeln wie leere Einkaufskörbe. Oder die Körbe vergangener Blumenmädchen; solchen wie der Gänseliesel, die über und über von Blumen umgeben den Brunnen ziert, gleich neben dem Riesenrad. Nicht nur zur Weihnachtszeit wartete sie hier auf Küsse von Studenten, die in Göttingen ihr Studium aufnehmen wollten; so war es Brauch seit Errichtung des Brunnens im Jahre 1901. Zeugnis der guten alten Zeit, als Studierende nun mal männlich waren und ein Gänselieselchen nun mal verfügbar. Doch das hat sich bis heute geändert: Doktorand:innen beider Geschlechter kommen heutzutage mit geschmückten Bollerwagen und Doktorhüten zum Brunnen und besteigen ihn zum Gänseliesel-Kuss, bringen Blumen als Dankeschön für ihr Glück; auch, wenn ein „Kuss-Verbot“ von 1926 eigentlich sogar heute noch gilt.

Es ist weltberühmt, „das Gänseliesel“, in Japan gibt es eine Nachbildung von ihm, doch heute steht es im Museum nach soviel überstandenen Liebesbezeugungen wie leider auch Schändungen. So steht am Brunnen seit 1990 eine Kopie; doch was soll‘s.

 

Die neue und die alte Welt, die Horizontale und die Vertikale, greifen sie nicht ineinander, bilden sie nicht die kosmische, universelle Ordnung ab, Einheit und Harmonie?

Doch dafür bräuchten sie eine gemeinsame Mitte: die Kirche, die Kuchenplatte, das „Wiener Hochrad“ auf dem Göttinger Weihnachtsmarkt und der Gänseliesel-Brunnen, wo die guten alte Zeit die Gegenwart trifft.

 


 

 

 

 

https://www.goettingen-tourismus.de/magazin/gaenseliesel-goettingen/

 

Text und Fotos: (c) Eva Wal, VG Bild-Kunst