Freitag, 26. Dezember 2025

Morgenvogel

 

Der Morgen zündet seinen Himmel an über dem frostverkrusteten Dorf. Farben strömen herbei, unmerklich ihr Kommen. Sie sind da, erschienen. Kamen zart, wurden kräftig und klar, bilden nun Fläche und Struktur. Der Flug eines Vogels, seine bewegte Form an der Himmelsfläche, ist konkret. Der Gedanke daran abstrakt. Kann ein Gedanke nur Gedanke sein?

 

Losgelöst von direktem Bezug zu Alltagsgedanken, ist der Anblick eines Vogelflugs doch von tiefer Bedeutung, von elementarer Verbindung für mein Leben und weist weit über den Moment hinaus. Wohin?, frage ich in den Dezembermorgen.

 

Die Zweige und Äste des toten Baums auf dem Nachbargrundstück zeigen doch genau sein Leben an. Alles Geschehen hat sich in seinem Wuchs, seiner Gestalt und Beschaffenheit manifestiert.

 

Betrachtungen im Schein vieler Kerzen und einiger Gambenstriche im frühen Morgen; die Helligkeit breitet sich erst langsam aus, steigt wie eine Flut, bis die Sonne das Monopol ist und alle Nuancen verdrängt. Der Kerzenschein aber bleibt hier drinnen, eine jede Kerze ein flammendes Gewächs, eine Blume, ein Baum in meinem Universum.

 

Winterruhe, das Leben eingerollt um mich herum wie eine wohlig schlafende Katze; ein Tier voller Wärme, mit Fell überzogen und ein Freund; schnurrend, und manchmal zuckt ein Ohr im Schlaf.

 

Der Schulbus ist durchs Dorf gefahren. Wenige Schüler drängen sich auf den hinteren Sitzen. Der Bus hat die Gedanken mitgenommen an den Alltag, den Beruf, die Verschwendung meiner Kraft. Sie liegt in der Welt. Im Leben hat sie sich verteilt, sie liegt hinter mir. Vor mir liegen nur noch Muße und Betrachtung. Was werde ich noch erschaffen außer Atemblumen? Abstrakt, konkret, ephemer, doch auch dinglich wie der Vogelflug.

 

Und die Worte, dies zu bezeugen, springen von den Klippen meiner Finger; ein Flug, ein Tauchgang durch Tinte und Stift aufs Papier… und schon ist der Gedanke ein Wort. Gezeichnet in Schrift wie die Äste eines Baumes, tot oder lebendig. In den Zweigen der Morgenvogel.

 


 

(c) Eva Wal, VG Bild-Kunst