Mittwoch, 15. Oktober 2025

Gesichtsfeld - Gedankenfeld

 

23. September

 

Ich tauche aus der Stadt auf und setze mich ans Wildgehege an der Waldau. Das Wild liegt auf der kurzgeschorenen Wiese, die Grasspitzen glitzern im Wind und zittern wie die Schwänze der Rehe und ihrer Kitze, denen es vielleicht zu warm ist, die vielleicht von kleinen Fliegen geplagt sind, oder die nervös sind wie ich, voller zitternder, hin- und herschlagender Gedanken. Rehe, Kitze, weiblich und männlich; Dammwild, Rotwild, man kann es auf einer Tafel lesen. Zwei weiße Geweihträger, einige fast schwarze Rehe, die anderen rotorange-braun mit den weißen Punkten, die das Tier fröhlich und verspielt aussehen lassen. Eine junge Herde, Geburt im Juni, lese ich auf der Tafel. Ein Tier steht auf, streckt sich, das Fell kurz und glatt, schimmernd, ohne ein einziges, zitterndes, abstehendes Haar; eine glatte Einheit, geschmückt, geziert von löffelartigen Ohren, seitlich abstehend neben den kugelrunden, niedlichen Augen, die mit der breiten, schwarzen, glänzenden, schmatzenden Schnauze ein friedliches Dreieck bilden. Die männlichen Tiere tragen ein archaisches Geweih aus der Vorzeit; grau, erhaben und uralt sieht es aus.

 

Voller Sehnsucht nach Kuchen und Wald nahm ich den Bus, den ganzen Morgen schon Vorfreude im Bauch wie Hunger vor einer versprochenen Mahlzeit. Endlich wieder genug Schlaf, Rekonvaleszenz. Langer Schlaf ist wie ein Baum mit langen Wurzeln und einem Atem, der den Schatten der Insomnia vertreibt. Ein Insomnia-Schatten ist der Schatten der Nacht, der nicht, kommt der Tag, hinter ihn fällt, sondern auf dem Tag liegenbleibt, sich nicht erheben kann. Ein alter Greis mit Mehltau im Bart und Steinen im Bauch. Der Schatten fällt nicht, weder vor noch zurück, er klebt, ist festgeschweißt an den Bart der Zeit – fehlt doch der Schlaf, der ihn beatmet und belüftet, durch Ruhe, durch Träume, durch das tiefe Tauchen in die Tiefe des Bewusstseins. Wie oft muss ich Insomnia erleiden! Zu oft, viel zu oft!

 

Die ruhenden Rehe drücken ihre Schnauzen an die Erde, doch die Schwänze sind beschäftigt; dort hinten gibt es keine Ruhe. Wo fließen Ruhe und Unruhe, Muße und Geschäftigkeit zusammen in ihren Leibern? Sonne, wärmend und Wind, kühlend, verbinden sich und konkurrieren, hier draußen im Wald.

 

Zuerst musste ich mich, gerade hier oben angekommen, von einem Flimmer-Skotom befreien, „Gesichtsfeldausfall“ genannt oder „Augenmigräne“; ein kleiner Infarkt, der Unruhe und Stress anzeigt im Gehirn. Dabei wird das Sehfeld durch stroboskopartig flimmernde, zuckende und gezackte oder schlingernde Bänder zerfräst. Man muss es loswerden, dieses Skotom, sonst, so lernte ich, als es das erste Mal vor über zwanzig Jahren auftauchte in meinem Leben, sterben Gehirnzellen ganz ab, weil sie zu lange nicht durchblutet werden, und die Sicht kann dann möglicherweise nicht mehr repariert werden. Ich bin also wieder einmal in Gefahr und muss mir dringend Ruhe verordnen. Ruhe im Wald, was sonst suche ich hier?

So liege ich ausgestreckt auf einer hölzernen Bank in einer zu den Seiten offenen Rundhütte mit kegelförmigem, aus Dreiecken zusammengesetztem Dach wie einem Hut, mit Moos bewachsen und mit Baumsamen bestreut, und atme flach: lange aus, dann Pause, flach ein, lange aus, Pause --- Halte die hohlen Handflächen über die geschlossenen Augen, lasse den Blick nach innen sinken, fallen wie einen schweren Schatten in einen Brunnen, und ich höre, höre den Wald rauschen, sprechen, erzählen, lauter und intensiver bei jedem Atemzug. So lange, bis sich die Stroboskopbänder entfernt haben. Sie verschwinden, entweichen endlich von innen nach außen wie Geister einer dystopischen Fiktion.

 

Es kann auch ganz harmlos sein, so ein Skotom, geht es doch immer von selbst wieder nach einer Zeit, nicht länger als einer halben Stunde.

 

„Was machst du?“, fragt mich ein behelmter Junge, etwa fünf Jahre alt mit einem gefundenen Stock in der Hand. Kinder und Mütter sind beschäftigt mit sammeln, suchen und finden; richten ihre Aufmerksamkeit auf Futter, Stöcke, Steine, Blätter; was erdschwer ist oder fallengelassen wurde. Fundstücke, Steine, Blätter... oder Wolken… so könnte man auch meine Betrachtungen und Beschreibungen bezeichnen. Wozu, warum? Warum nicht? Es verbindet mich mit den Strömen, innen und außen, mit denen ich verbunden sein will und macht mich ruhiger. Ein Segler muss segeln, ein Flieger muss fliegen, eine Reiterin reiten, eine Zauberin zaubern und eine Erzählerin erzählen. Ist das Zen?

Nun gehe ich weiter, bis ich wieder am Kaffeebüdchen am Ausgang oder Eingang des Waldes anlange. Ich hoffe auf Kuchen, der Kaffee ist mir fast sicher.

 

Ich bin zufrieden: Kaffee und Kuchen! Junge Familien, mittelalte Bäume, verhaltener Kinderlärm vom Spielplatz, es ist Dienstag-Nachmittag und nicht zu voll.

Das Angebot vom Kaffeebüdchen: 1 Stück Kirschkuchen und ein Heißgetränk für 5 Euro. Ob ich die Sahne für 1 Euro extra obendrauf will? „Nein, bitte daneben“, antworte ich.

Der wohl indischstämmige Kaffeebudenbetreiber wiederholt die Frage und ich die Antwort. Nochmalige Wiederholung – ratlos hält er die Sahnesprühdose über dem Kuchen und drückt schließlich ab: mitten auf den Kuchen obendrauf. Was soll auch das Gefrage und das Geantworte, das nirgends hinführt. Der Kirschkuchen ist nach altem Verständnis ein Pflaumenkuchen – tut’s was zur Sache? Wie kürzlich die deutschsprachige Kassiererin im Supermarkt den Fenchel in die Höhe hält und fragt: „Kohlrabi?“

Selten hört jemand zu, fragt und wartet die Antwort ab, schert sich drum, merkt sich was, hält sich an was, versteht oder will verstehen… Kohlrabikuchen mit Sahne auf dem Kopf – wer versteht noch die Welt? Muss man dann AfD oder CDU, die LINKE oder DIE PARTEI wählen?

  

Ich schreibe, male Bänder, geschwungen, gezackt, Gesichtsfeld-Zugaben, Bereicherungen, sanft funkelnd wie Edelsteine.


Der Atem ist im Moment, das Scharnier zwischen Vergangenheit und Zukunft. Beim Atem sein, im Moment… Tag und Nacht sollen gleich sein.

 

Eine alte Dame steht auf und kommt zu meiner Bank: „Schreiben Sie über die Geräusche des Waldes?“, fragt sie mich und würdigt dann den Platz, an dem wir beide verweilen. Ich bejahe. „Von Weitem“, sagt die Frau, „sieht es so aus, als würden Sie ihre Memoiren schreiben“. „Das fließt alles ineinander“, sage ich und frage mich 1., wie es von Nahem aussieht und 2. wie es denn überhaupt aussieht, wenn man seine Memoiren schreibt.

„Man möchte mit den Bäumen hinauswachsen“, höre ich die Dame nun schwärmen.

 

Rückweg: ein Café in der Südstadt. Elegantes Publikum, junge, wohlsituierte Frauen mit fein eingekleidetem Hündchen. „Wie kann man nur so hübsch sein?“, ruft eine der Frauen und küsst das Tier auf die Schnauze. Die andere im Yves-Klein-blauen Modemantel, mit dunkelrotem Lippenstift und monotoner Stimme, bezahlt die Runde. An meinen Tisch hier draußen, gelber als der Briefkasten an der Ecke und noch gelber als mein Regenmantel, wird der frische Ingwertee und der vegane Zitronenkuchen mit Himbeersauße serviert. Ich schreibe weiter. Später bitte ich um einen Schluck heißen Wassers auf den halb ausgetrunkenen Tee. Habe schon bezahlt und ein gutes Trinkgeld gegeben. „Kriegen wir hin“, sagt die Bedienung, geht hinein, kommt wieder und sagt: „also, für 1 € Aufpreis wäre das ok“. Für mich aber nicht, sage ich und denke: lieber wieder in den Wald zum Kaffeebüdchen, wo eine Kirsche noch eine Pflaume ist und man für 1€ extra einen Sahnetupfer geradewegs oben auf den Kuchen bekommt.

 

Dann nehme ich den nächsten Bus, es ist schon Abend, dämmert schon, und fahre nach Hause.

 



 

(c) Eva Wal, VG Bild 



 

Dienstag, 9. September 2025

Schwarzer Wald Weißes Wasser

 

Nach einem Monat der Rehabilitation in Todtmoos im Südschwarzwald teile ich hier, aufgeteilt in einige Postings, eine Auswahl tagebuchartiger Skizzen, Gedichte und Fotos.

 

 

 

10. August

 

 

Auf dem Waldweg

 

Im Vorübergehen sehe ich mich

 

um nach einem jungen Wolf –

 

und er sich nach mir

 

 

Aug in Aug bleiben wir stehen

 

 

Er trägt Leine und hat Mensch

 

Ich trage Rucksack und habe Wald

 


 

 

 

 

 

Auf dem Hochstand

 

Unter mir windet sich ruhig und verlassen der Waldweg

Ein Weg ist eine Einladung, es muss doch einmal einer vorbeikommen –

auf zwei oder vier Beinen, Hufen, Pfoten oder Zehen mit Flügel, Schnabel oder Schnauze –

 

Ein Summen, Krächzen und Zwitschern gesellt sich in die Rauschfrequenz des unsichtbaren Baches unter uns – alle Farben sind hier vereinigt, rauschen zusammen in Grüntönen mit Grau und Braun –

 

Lichtstämme

Schattenraster

(streng und sanft)

Flechten, Moose, Baumbärte

 

Waldfall

Waldsteigen

 

Alles, was lebt

hebt und senkt den Atem

 

Ich mache Photosynthese

 

 

Wie die Sonne sich an die behaarten Finger eines Zweiges schmiegt

 

Pilze fläzen, lümmeln wie faule Tiere auf Baumtellern

 

 

 

 



 

 

Register

 

Fuchsisches Greiskraut – dünnfingriger Sternentrichter-Strauß

 

Kaisermantel – samtbrauner Kleevogel

 

 

 












 

13. August

 

der Wasserfall die Wasserfelle die Wasserfellträgerin die Wasserfalle die Wasserfallende die Wasserfällende

 

Mitten in der Nacht scheint der Fluss - das stürzende Wasser - das weiße Haar der Nacht - leuchtend in seiner Bahn aus Stein 

 

Sternschnuppen gefroren in ihren Sphären

 

Das heisere Bellen eines Hundes hatte mich vertrieben – eben dieser eine Hund hatte den Mond zerbissen

 

wie war es kalt in der nacht ich wickelte mich in wasserfelle trug das wasser über den schwarz bemoosten fels hinauf hinüber die ruhe fehlte ganz die liebe lag brach und

brüchig doch der fluss wo bärenklau und engelwurz sich gegenüberstehen an

den ufern rauschte unbeirrt enthielt alle vogelfrequenzen und

lächelte als ich das weiße haar hineinlegte

„Wasserfellträgerin“

raunte es aus der

kalten sommer-

nacht

ich

ging

weiter

an

meine

ufer

 

 






15. August

 

Gestern gehe ich einen neuen Waldweg in das Dörfchen Schwarzenbach und verliebe mich in das abgelegene Idyll. So ist es, wenn man durch den Wald gegangen ist, in dem Wölfe und Pilze um Licht und Dunkel ringen, Tannen und Fichten, und ich dem Weg unter meinen Füßen vertrauen muss - der Wald speichert das Licht und reinigt es in seinem dunklen Schoß.

Ich bin - immer noch - ein ängstliches und mutiges Rotkäppchen. Die Wölfe aber haben mit den menschlichen Märchen-Projektionen nichts zu tun. Ich komme aus dem Wald wie gewaschenes Licht - dort ist ein Dorf mit großen, tiefgezogenen Dächern, die mir Schutz anbieten, ein neues Leben zwischen grünen Hängen im Sommer und weißen im Winter. Ja, so ist es! Ich erkunde und wandere die Straße zurück.

Die Waldaufenthalte sind, was meine Seele reinigt und nährt, während die Klinik-Maschinerie, die ratternden, rüttelnden, pumpenden, schnaubenden Düsen und Motoren und die Stimmen der Physiotherapeutinnen in gekachelten Kellern meinen Körper aufbauen. 

 

 

 

 

 

 


  

 

 









 Die Klinik Wehrawald auf dem "Zauberberg"




 

 

24. August

 

 

Hochstand 

 

  

Der Reiher hebt sich aus der Tanne

 

Schwebend hält sich die Wespe in der Luft

 

Das Eichhörnchen überquert den Weg

auf dem ich gehe

 

Die Lippen des Springkrauts schürzen sich

und wollen springen zum

 

Kuss

 

Es rauscht im Wald und

 

darüber ist es still

 

 

Ich gehe durch das Holzfällergebiet

 

rieche die Verletzung spüre

 

die groben Äxte die Sägen die Traktoren

 

mit ihren Riesenrädern die den Boden

 

verdichten wie Asphalt

 

 

Der ungeheure Lärm das Heulen Dröhnen und Rasseln

 

hat die Waldbewohner erschüttert die Wurzeln

 

zucken noch unter aufgetürmten Stämmen

 

lange Leiber mit zerfetzter Rinde

 

 

Könnte ich helfen!

 

Ruhe finden -

 

 

Mein Puls ein Eichhörnchen

 

meine Seele eine Tannenreiher

 

meine Hände die nervösen Flügel

 

einer Wespe und meine Lippen

 

rosarotes Springkraut

 

  



 
 
 
 Mit dabei meine doppelköpfige Tonplastik
 
genannt LEBN-TODT
 






Fotos Eva Wal, VG Bild

 

 

Montag, 7. Juli 2025

Spirit of Gambo

 


Immer noch in Rehabilitation zuhause, doch Atelierstunden sind Erholung und Inspiration.



 

 

Musikfries "Spirit of Gambo"

nach dem gleichnamigen Stück von Tobias Hume ( c. 1569 - 1645) 

https://www.youtube.com/watch?v=4qffmVxN4bo 

 

Gouache und Natur-Wasserfarben aus Brasilien (Poética) und Canada (Beam paints) auf Papier, 

ca 130 x 74 cm 













The Making Of











  
 
 
Fotos, Malerei und zwei Gamben, Eva Wal 1993-2025
 
VG Bild